Ostfalen… ich hatte mal meinen Deutschlehrer gefragt: „Herr Hunstig, wenn es ein Westfalen gibt, dann muss es doch auch ein Ostfalen geben, oder?“. Er wusste keine Antwort. Aber schon seit Magdeburg finde ich überall Ostfalen und ostfälisch auf Schildern. Identität der „Westelbier“. Das südliche Niedersachsen ist irgendwie auch so und nennt sich immer häufiger Ostfalen. Aber vor allem sind die Menschen hier Braunschweiger, was eigentlich heißt: keine Hannoveraner. Braunschweig, also. Eigentlich sollte ich hier noch gar nicht gelaufen sein, schließlich ist der Braunschweiger Jakobsweg nur zwischen Helmstedt und Braunschweig ausgeschildert. Der Rest ist irgendwie Landschaft wie überall.
Pilger-Steckbrief: 79,60 km, 16 Stunden
Jeder Schritt und Fotos dieser Strecke in Komoot
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tolle Menschen am Wege
Meine Pilgerstempel
Es ging los in Sachsen-Anhalt am Bahnhof von Eilsleben. Der Jakobsweg ist hier noch nicht ausgeschildert, so dass ich mich auf mein Komoot-Programm verlassen musste.
Am Anfang stand allerdings ein ungewöhnliches Spektakel von Jungen Rehkitzen. Ein klasse Start für eine Wanderung:
Es ging weiter Richtung Westen durch die LPG-geprägten Landschaften der ehemaligen DDR und ich freute mich darauf, ohne Grenzen nur noch Reste des Eisernen Vorhanges sehen zu müssen. Vom Magdeburger Dompropst Reinhold Pfafferodt hatte ich das feine Detail erfahren, dass Marienborn nicht bloß ein Eisenbahn-Checkpoint des DDR-Grenzregimes war, sondern lange Zeit ein bedeutender Marienwallfahrtsort, selbst heute gelegentlich besucht von Pilgern. Davon ist freilich nicht viel geblieben, doch macht der kleine Ort durchaus Eindruck. Das ehemalige Kloster Marienborn war einmal. Aber die Anlage hat Charme und die Marienkapelle beeindruckt genauso wie die Orangerie:
Erst danach kam der Abstecher zum gigantomanischen Grenzübergang Helmstedt-Marienborn. Ich konnte mich daran erinnern, dass wir nach dem Kirchentag im Juni 1989 in Berlin einen ganzen Reisebus in der Grenzanlage schoben, da ja schließlich alle PKW-Fahrer ihr Auto in der unendlichen Schlange des Grenzpostens schoben. Wir sangen vor den verdutzten Grenzern „Wir wollen Schieben für alle!“ Frieden wollten wir natürlich auch, aber Schieben passte nur wenige Wochen vor dem Mauerfall ganz gut (nur, dass wir nichts ahnend revolutionär etwas vorwegnahmen).
Nicht weit von der Anlage kam die niedersächsische Grenze. Es war nicht das Grüne Band Deutschlands, das ich erwartet habe. Zunächst führte der Weg mitten durch einen jungen Wald auf einer Grenzpostenpiste entlang der „B1“. An der Magdeburger Warte im Lappwald kam ich schließlich nach Niedersachsen.
Dann kam Luxus pur. An der Warte begann die Beschilderung des Braunschweigischen Jakobswegs. Der Jakobsweg ist hier sehr gut betreut vom evangelisch Theologischen Zentrum Braunschweig und vielen ehrenamtlichen Helfern aller Konfessionen und Einstellungen. Es gab schon einige Jakobswegschilder in Sachsen-Anhalt und sogar im Brandenbugischen. Doch von Helmstedt bis Braunschweig musste ich erstmals kein Navigationssystem nutzen. Es begann eine Art „Jakobsbahn“… der Weg führte durch den Naturpark Elm-Lappwald.
Zu Fuß ist die deutsch-deutsche Grenz durchaus erfahrbar. Das 40 Jahre im Zonenrandgebiet leidende Helmstedt hat sich noch immer nicht davon erholt. Es ist irgendwie noch weit entfernt vom Aufbruch in ostdeutschen Mittelstädten. Besser kommen die Dörfer weg. Erstmals grüßen die Menschen den Wanderer fast durchgängig. Dies mag nur eine Momentaufnahme sein. Aber beim Wandern merkt man sich jedes Detail.
Bisher kannte ich das braunschweigische Niedersachsen kaum. Immerhin scheint hier größerer Wert auf Unterschiede zu den „Hannöverschen“ gepflegt zu werden, als zur ehemaligen DDR.
In Helmstedt selbst beeindruckte das leider geschlossene St. Ludgeri-Kloster und das erstaunliche Juleum, an dem sogar Giordano Bruno lehrte. Wer einmal auf dem Compo de‘ Fiori in Rom stand, wird sich an Bruno erinnern. Werde ich an Helmstedt denken, wenn ich wieder auf dem Campo stehe…?
Dann ging es relativ schnell raus aus Helmstedt, es war ein irgendwie beklemmender kurzer Besuch einer Stadt im nicht weichen wollenden Zonenrandgebiet…
Der erste lange Wandertag endete aber dafür in einem wunderbaren Dorf, im Mühlendorf Räbke. Ich hatte schon vorab nur gute Eindrücke, hatte mich doch Klaus Röhr bei der Unterkunftsuche unterstützt. Klaus Röhr ist ein überaus freundlicher anpackender Vorsitzender vom Förderverein Mühle Liesbach e.V. Er vermittelte mir schon Wochen vorab eine Schlafstelle bei der Familie Jensen. Im Anschluss gab er mir eine Tour durch sein Dorf, mit vielen Details zur Mühlengeschichte, aber auch zur Bauernschaft und dem großen Anteil an Volkswagen-Pendlern im Ort. Und er berichtete gleich von meinem Besuch im Dorf: „In der Pilgerherberge Jensen erfolgte eine freundliche Aufnahme. Im Mühlengebäude haben Swantje und Thomas Jensen einen sehr geeignete Unterkunft geschaffen, die bereits mehrfach genutzt wurde. Nach einem gemeinsamen Frühstück mit den Herbergseltern und allen weiteren Familienangehörigen ging es in die Mühle Liesebach: Stempeleintrag in den Pass sowie Eintrag in das Gästebuch sowie natürlich eine Kurzbesichtigung standen hier auf dem Programm. Der Wegepate begleitete den Pilgerfreund noch bis zur Kirche St. Stephani und dann wurde er mit besten Wünschen auf den weiteren Weg geschickt. Nächstes Ziel sollte die Pilgerherberge Veltheim/Ohe sein, doch vorher waren Königslutter, der Elm und Lucklum zu erkunden. Bernd Hüttemann, viel Erfolg bei dieser Reise.“
In der Tat die „Herbergseltern“ und Försterfamilie Jensen samt Mühle und vielen Kids waren herrlich gastfreundlich. Immerhin war ich der erste Einzelgast in der wunderbaren Herberge. Alles sehr praktisch und komfortabel im alten Fachwerkhaus. Ich erinnere mich sehr gerne an viele Details aus dem Leben von „unterirdischen Föstern“, Schlüsseln im Erdbeerfeld und (z.T. hammerwerfenden) Basen und einem Vetter.
Nach dem unerwartet schönen Erlebnis im Mühlendorf Räbke machte ich mich auf in Richtung Königslutter am Elm. Auf dem Weg lag eine – oh Wunder – geöffnete – evangelische Kirche: St. Maria:
In Königslutter fand ich zwei Highlights: die Stadtkirche und den Kaiserdom. Die Stadt macht einen sehr feinen Eindruck. Und natürlich machten die nun zum Standard aufgestiegenen Pilgerstempel zufrieden. Und der Kaiserdom ist ein Muss. Ich hatte Glück, mitten in die Vorbereitung einer Hochzeitsfeier zu geraten, mit einem formidablen Orgelkonzert:
Kurz vor dem Elmwald ist die unvermutet erscheinende Abt-Fabricius-Quelle des Flüsschens Lutter. Alles sehr morbid-romantisch barock. Was folgt ist der langweilig ansteigender Buchenwald Elm. Aber vielleicht war die grüne Monotonie nur gut, bis es dann in das Wolfenbüttelsche ging. Erwähnenswert ist nach dem Wald das ehemalige Deutsch-Ordens-Rittergut Lucklum, bis es dann hinauf nach Veltheim an der Ohe ging.
Hier erwartete mich eine weitere unglaubliche Gastfreundschaft in der Pilgerherberge Veltheim. Die Geschichte der Herberge erzählten mit ausführlich beim Gastmahl Sepp (Pongratz) und Uschi (Ahlswede). Die von geflüchteten Schlesiern gegründete katholische Gemeinde Hl. Kreuz sollte eigentlich aufgelöst werden. Doch haben sich viele Ehrenamtler daran gemacht von Privatspendern, Stiftungen, den Kirchen und der Europäischen Kommission Geld einzuwerben, um eine Pilterhütte zu bauen, die erst seit kurzer Zeit voll funktionstüchtig ist und nebenbei irgendwie die alte Schlesier-Gemeinde gerettet hat. Ich durfte die Nacht fast im Luxus allein belegen, samt tollen informativen Überraschungsgästen: dem Bayern Sepp und der Schlesierin Uschi. Und da war es wieder dieses „Europa im Kleinen“, weltoffen und demokratisch vor Ort anpackend!
Nach der Messe ging es über das Schloß Veltheim Richtung Braunschweig.
Auch hier sollte es Überraschungen geben. Die Wälder begleiteten mich erfrischend abwechselnd. Erst spät bemerkte ich, dass ich mich auf einem ehemaligen militärischen Gelände befand, das sich eine ungeheure Artenvielfalt erhalten hat.
Den schönen Abschluss von drei Tagen Wanderschaft bildete die Zisterzienser-Klosteranlage von Riddaggshausen. Und hier durfte ich dann das Ende der braunschweigischen Stempelseeligkeit erleben. Der evangelische Kirchenvogt (kath. = Küster) Jürgen Sackmann meinte freundlich, dass man schlicht den Stempel noch nicht ausgepackt habe und belohnte mich dafür mit einer kurzen Führung in der ehemaligen Abtei. Es war wunderbar!
Das waren meine ersten schönen Eindrücke von Braunschweig, das ich zu meiner Schande nie besucht habe.