Im „gebirgigten Westphalen“: vom Hochstift ins Sauerland 2018

Die gastfreundliche Blaskapelle Ovenhausen gleich nach der Krautweihe

Von Höxter aus machte ich mich auf in eine ganz besondere Region. Jenseits der Weser, im nun „gebirgigten Westphalen“ habe ich meine gesamte Kindheit verbracht. Das westliche Weserbergland, das Eggegebirge und die Paderborner Hochfläche, sind das was ich als „meine Heimat“ kennengelernt habe. Dazu gehören die wasserreichen Haufendörfer in tiefen Tälern und die wasserarmen flachen Höhen.  Meine Erdkundelehrer haben mir früh von Wasserscheiden und Steigungsregen erzählt. Und meine Tour brachte genau das: bei heißestem Sonnenschein und mit 3 Liter Trinkwasser lief ich über Berg und Tal bis in die kleine Stadt Brakel. Am nächsten Tag folgte andauernder Fisselregen im Nethetal bis Bad Driburg. Wiederum tags darauf auf dem Eggegebirgskamm musste ich strömendem Plädderregen trotzen. Auf der Paderborner Hochfläche folgten windige Haufenwolken.

Mein Weg durch Hochstift Paderborn und Hochsauerlandkreis

In Westfalen gibt es erstmals auf meinem Weg von Berlin ein einigermaßen gut ausgeschildertes Jakobswegesystem, mit vielen Stempelstellen und Unterkünften, doch wich ich leicht vom Hauptweg ab.

Das Kloster Corvey hatte ich schon auf meiner letzten Etappe bewundert. Um das Kloster Brede in Brakel in einem Tagesmarsch komfortabel erreichen zu können, übernachtete ich am Vorabend in der Altstadt von Höxter. Ich genoss die ganz besondere Gastfreundschaft einer leidenschaftlichen Pilgerin. Karin Steinberg bot mir eine zu Recht empfohlene simple Pilgerunterkunft. Viele Gespräche kreisten um Wege und Lebenswege.

In der Abteikirche Corvey und in St. Kilian hatte ich mich ja bereits bestempeln lassen. Die fehlende St. Nikolaikirche blieb mir am Wochenende leider verschlossen. Aber dafür wurde ich am Sonntagmorgen durch die St.-Michaels-Kapelle auf dem Heiligenberg entschädigt. Der Aufstieg in das Hochstift allein war ein Erlebnis. Tolles sonniges Wetter, saftige Wiesen und eine menge Kühe.

Auf dem Berg angekommen, könnte ich an der Heiligen Messe teilnehmen, die just an diesem Tag nach erfolgter Prozession zur Krautweihe vor der Kapelle stattfand.

St. Michaels-Kapelle ist auch der Ort, wo seit etwa dem 15. Jahrhundert die Mutter des heiligen Jakobus, Maria Salome, verehrt wird. Es gibt wohl nur wenige weitere Maria Salome-Verehrungen in Europa: in der Camargue in Les Samtes Maries de la Mer, im italienischen Veroli und… in Santiago de Compostela.

Vor den meist älteren Teilnehmenden wurde ich namentlich als Pilger erwähnt. Das war mir durchaus ein wenig peinlich, aber gleichwohl ein tolles Erlebnis: eine sonnige Messe in einem Bergwald. Als ich den Weg bergabwärts nach Ovenhausen lief, zeigte sich das Dorf von noch größerer Gastfreundschaft! Mitglieder der Blaskapelle Ovenhausen begleiteten mich in das Dorf. Mit Trompeten und Posaunen unterm Arm erklärten sie mir, dass es nur einen Pilgerstempel gebe und zwar in der Bäckerei, die freilich bereits geschlossen sei. Die Lösung bestand in einem Deal: ich sollte in ein gemeinsames Bier einwilligen, wenn sie dem Bäcker Wiegers eine Kiste außerhalb der Öffnungszeiten entlocken könnten. Im Gegenzug zu dieser harten Aufgabe sollte ich meinen Stempel erhalten. Als die Musiker-Vorhut beim Bäcker um die Kiste Bier bat und einen (sonst seltenen) Pilger zum abstempeln ankündigten, erwiderte der Becker nur ungläubig: „Stempel gibt es bei Euch für den A…“ Entsprechend erstaunt schaute er mich an, als ich mit Rucksack auftauchte.
Viele glauben ja, die Westfalen hätten keinen Humor, aber ich weiß es besser. Westfälischer Humor gehört der engsten Gemeinschaft. Nicht jeder hat das Glück, ihn zu verstehen.

Ganz besonders freute ich mich über die Bekanntschaft und Gespräche mit dem Kreisheimatpfleger Hans-Werner Gorzolka, der bei Messe und anschließendem Umtrunk dabei war.

Ovenhausen war auch aus einem anderen Grunde bemerkenswert. Es steht für den Verlust der Dorfjuden im Hochstift. Aus Ovenhausen stammt Soistmann Berend, der in der Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff ermordet wurde. Sein Haus ist mittlerweile Teil des Westfälischen Freilichtmuseums. An seiner Stelle steht ein „Carport“.

Landjudenschaft“ ist ein selten behandeltes Thema. Auch in ambivalent toleranten katholischen Landschaften rottete die Schoah die Menschen jüdischen Glaubens aus, so auch in diesem Dorf.

Die heutige wunderbare dörfische Gemeinschaft erklärte mir sehr selbstverständlich, dass man die jüngsten Geflüchteten (es waren über 20) viel besser integriert hätte, wenn es „die große Politik“ nur erlaubt hätte. Dorfgemeinschaft und Vereinswesen scheint mir zumindest hier wieder mehr geachtet zu sein. Auf meinen ersten 600 km seit Berlin habe ich jedenfalls noch nicht solch eine Gemeinschaft kennengelernt.

Ich musste leider weiter. Ziel war nun das Bökendorfer Pilgerkreuz mit seiner alternativen Stempelstelle. In das eiserne Kreuz kann man Steine schmeißen, um es über die Jahre aufzufüllen.

Ich leistete mir nach einer Rast einen kurzen Abstecher zum nahen Bökerhof, wo der Stiefonkel der Droste-Hülshoff August von Haxthausen ihr von der Judenbuche erzählte. Mein Ausflug über die Kreisstraße war eher ernüchternd. Ich hatte mir einen besseren Besuch zum schönen Gutshof erhofft. Irgendwie hatte ich überlesen, dass das Museum zum „Bökendorfer Kreis“ 2010 schon geschlossen hat. Ursprünglich hatte ich zunächst vor, das nächstgelegene „Dorf B“ der Judenbuche zu besuchen. Aber ich musste weiter, um das Kloster zu erreichen. Durch ein recht schlecht ausgeschildertes Gebiet, erreichte ich den Stadtrand von Brakel. In der Waldschänke beschenkte man mich fürstlich mit Bonbons, da es auf meine Frage kein Eis am Stil gab. Auf wie alt wird ein Pilger geschätzt?  🙂
Im Kloster Brede kam ich dann doch noch früher als erwartet an, um bei den Armen Schulschwestern einzukehren. Hier sollte ich auch den Stempel der St. Michael-Kirche erhalten.

Schwester Ignatia wartete schon auf mich und sollte eine mir eine liebevolle Gastfreundschaft erweisen. Abendbrot und Frühstück mit selbstgebackenen Pilger-Keksen und ein Marien-Anhänger und ein schönes Zimmer wurde mir für nur wenig Geld von dieser freundlichen Nonne angeboten. Und doch war dieser schöne Ort ein Ort der Wehmut. Als Schwester Ignatia in den Schul-Orden eintrat, waren es noch über 100 Mitschwestern. Heute sind es nur noch 20, wovon nur fünf noch rüstig genug sind, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Den Schulalltag des Gymnasiums meistern sie schon längst nicht mehr. Aber die Gastfreundschaft ist einmalig. Auch zwei Geflüchtete profitieren. Sie belegen das Pilgerzimmer, was ironischerweise ein Upgrade für mich bedeutete. Schwester Ignatia ist selbst Geflüchtete aus Schlesien. Am Morgen ließ sie mir von einer Mitschwester etwas für die Politiker in Berlin ausrichten: „Sagen Sie Herrn Seehofer, dass er besser auf ein Boot ins Mittelmeer steigen soll…“

Im beschaulichen Brakel habe ich den offiziellen Pilgerweg verlassen, um über das Nethe-Tal durch Dörfer meiner Vorfahren zu laufen. Es sollte ein grüner fisseliger regnerischer Tag durch ein wunderschönes Tal werden. Rehder hat eine beachtliche Barockkirche von Johann Conrad Schlaun und ein Schloss, was noch heute im Besitz derer von Mengersen ist, einem alten paderbörnischen Adelsgeschlecht. Park und Mühlenanlagen bilden eine wunderbare Einheit. Gemeinsam mit Siddessen ist Rheder der Ort, wo meine Großonkel und Tanten lebten. Im anschließenden Kloster Gehrden ließen viele meiner Vorfahren ihre Kinder taufen. Das Hotel Schloss Gehrden belegte meinen Eindruck, dass die Gegend des Hochstifts sich allmählich wirtschaftlich entwickelt. Der Weg führte mich anschließend zur alten fürstbischöflichen Amtsburg Dringenberg. Leider ist das Museum nur an bestimmten Tagen geöffnet. Aber die Burg macht auch so Eindruck, auch dadurch, dass hier große Teile der höheren Rechtsprechung im Hochstift erfolgte. Nach vielen „gebirgichten“ Wäldern erreichte ich rechtzeitig die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Bad Driburg (mit Stempelstelle). Anschließend ging es in die überfreundliche Jugendherberge. Die Herbergsmutter machte mir meine Rückkehr in Jugendzeiten überaus angenehm. Ich hatte anschließend sogar genug Fußkraft, um den Gräflichen Park zu bewundern.

Am nächsten Tag geht es bei Plädderregen 200 Meter hoch auf die Iburg. Eine einzige junge Wanderin begegnete mir im Regenwald. Die Sicht auf Bad Driburg war in der Wolkensuppe entsprechend schlecht und die Fundamente der altsächsischen Burg gaben mir wenig Verweillust.

Mein Regenradar zeigte mir, dass nach dem Eggeregen auf der Paderborner Hochfläche Sonnenschein folgen sollte. Aber auch an der Grenze zum Landkreis Paderborn, ging es nass weiter. Der Regen spülte mich geradezu in eine der Bäckereien von Schwaney, wo ich überreichlich mit Keksen zum Pott Kaffee beschenkt wurde.

Die Stempelstelle in St. Johannes Baptist erreichte ich anschließend trockenen Fußes. Und die „Paderborn Highlands“ sollten mich trockenfönen. Der Weg nach Dahl führte auf einen schönen Höhengrad oberhalb des Ellerbaches. Ein herrlich typischer wie windiger Ausblick auf die Paderborner Hochfläche mit ihren enormen Windkraftanlagen.

Und ganz unvermittelt führt der Weg in den ersten Vorort von Paderborn: das noch sehr ländliche Dahl mit seiner Pfarrkirche St. Margaretha und dem unvermeidlichen Stempel. Was folgte waren Gebiete, die ich schon als Kind mit dem Fahrrad gemacht habe, einschließlich der Haxter Warte. Meine Heimatstadt ist seit den 60er Jahren enorm gewachsen. Auch meine Taufkirche Maria zur Höhe wurde erst 1968 fertiggestellt. Meine Taufkirche liegt nur wenige Meter vom ausgeschilderten Jakobsweg, also lag ein Abstecher nah, inklusive Führung vom Diakon, samt Stempel.

Bisher habe ich viele mir gänzlich unbekannte mittelalterliche Städte besucht. Die Paderborner Geschichte kenne ich, meinem alten Geschichtslehrer Dr. Friedrich Gerhard Hohmann sei Dank, recht gut. Es war mithin seltsam einfach, mich hier als Wanderer zu bewegen. Ich konzentrierte mich auf Stätten mit Pilgertradition. Allen voran die Busdorfkirche mit ihrem phänomenalen Kreuzgang und natürlich der Hohe Dom mit seinem Paradiesportal, dessen Vorhalle vermutlich als Schlaf- und Speiseraum für die Jakobuspilger im Mittelalter diente.  Schon im Kunstunterricht am Theodorianum musste ich das Portal beschreiben. In der Kathedrale, in der ich viele Male als Chorknabe sang, konnte ich mich nach über 90 km geistig sammeln. Die Pilgertradition des Domes habe ich erst heute begriffen.  Stempel gab es im Dom und im Meinwerk-Institut. Das Diözesanmuseum ist temporär geschlossen.

Im

Es ging als nächstes weiter nach Süden über den neu erschlossenen Jakobsweg von Paderborn nach Elspe über Husen und Kloster Dalheim nach Marsberg, wo ich im Dorf meines Großvaters in Husen in der Nähe vom Kloster Dalheim übernachten werde.

Wanderlust in Westfalen! Den Jakobsweg in meiner Heimat lief ich bereits seit Höxter. Meine Etappe ins Sauerland begann in Paderborn und folgte einem erst 2017 neu beschilderten Weg Richtung Süden. Es ist ein mittelalterlicher Weg, der vom Landschaftsverband Westfalen/Lippe Heerweg/Römerweg (manchmal auch Frankfurter Weg oder auch Via Regia) genannt wird. Im sauerländischen Elspe stößt der Weg auf die Heidenstraße, die wiederum nach Köln führt. Auf meinem Weg habe ich eine wunderschöne Landschaft und wunderbare Menschen kennengelernt. Aber so richtig bekannt ist der Weg selbst für Einheimische nicht…

Der neu gekennzeichnete Jakobsweg nach Elspe führte mich von Paderborn über die Kapelle zur hilligen Seele, Atteln/Husen, Kloster Dalheim, Meerhof, Oesdorf, Essentho vom Hochstift Paderborn in den Hochsauerlandkreis nach Marsberg. Von dort ging es nach Giershagen, Padberg, Messinghausen, Gudenhagen, Olsberg, Bigge, Heringhausen (mit dem Umweg Ramsbeck) nach Remblinghausen, Herhagen, Reiste, Bremke, Eslohe nach Elspe und schließlich nach Grevenbrück. Nach 5 Wandertagen nahm ich wieder den Zug zurück nach Berlin. Meine Dankbarkeit bringe ich in der Hall of Fame zum Ausdruck.

Der Weg durch meine Heimat Paderborn nach Santiago de Compostela wurde mir durch einen neu gekennzeichneten Weg erleichtert. Erst 2017 wurden historische Fernstraßen im Hochstift und im Sauerland mit dem Pilgerzeichen des Europarats versehen. So konnte ich mir den Weg über den flachen Hellweg und durch das autogerechte Ruhrgebiet sparen. Aber die Route von Paderborn nach Marsberg ist alles andere als etabliert, eigentlich gibt es nur die Zeichen und kaum Verbindungen zu den Dorfgemeinschaften und Gemeinden. Und doch: auf Nachfrage haben mir viele Gemeinden Übernachtungen im Pfarrheim angeboten, so in Giershagen, Bigge und Eslohe. In Husen bekam ich ich unverhoffte verwandtschaftliche Hilfe.

Das Paradiesportal heute

Erster Tag: Vom Paradies nach Husen

Die Pilgerherberge in der Vorhalle des Paradiesportales am Paderborner Dom. Zeichnung von Gehrken 1815.
Jakob im Paradies

Paderborn existiert eigentlich nur wegen der Paderborner Hochfläche. Die karstige Landschaft saugt den vielen Regen der Region auf wie ein Schwamm und spuckt ihn wunderbar in Paderborn in Form der Paderquellen aus. Um diese Quellen herum entstand die mittelalterliche Stadt mit karolingischer Burg und Dom. Am Paradiesportal der Kathedrale befand sich schon sehr früh ein Pilgertreffpunkt und eine Pilgerherberge. Heute weist die Statue des Heiligen Jakobus d. Ä. auf diesen Ursprung hin, aber nur für die, die auch wissen, dass seine Muschel vor der Brust einen historischen Pilgerweg kennzeichnet. Dass das Paradiesportal Ausgangspunkt für zwei Wege über Köln nach Santiago ist, wird nicht deutlich. Im Diözesanmuseum Paderborn holte ich mir noch einen fehlenden Stempel ab (was mir nur nach vielen Nachfragen gelang). Die im Herbst 2018 gezeigte Ausstellung „Gothik“ stimmte mich wunderbar auf die Wanderung ein. Ich folgte anschließend nicht den wenig ausgeschilderten Jakobsmuscheln, sondern der Husener Straße, an der ich schließlich geboren wurde.

Paderborn ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Das Universitätsgelände geht mittlerweile nahtlos in einen Golfplatz und einen Sportflugplatz über. Schnurgerade führt der nun ausgeschilderte Jakobsweg in das schöne Naherholungsgebiet „Haxter Grund“. Irgendwann erreichte ich die überaus lohnenswerte Kapelle zur hilligen Seele, die ohne Menschenseele offen für Wanderer ist. Neben der offenen Kirche stand ein Bauwagen mit Bioeiern, die man nur gegen Bezahlung nach gusto einfach mitnehmen konnte, natürlich sinnlos für Pilger ohne Eierkocher aber dennoch sehr nett. Offene Gotteshäuser sind auch in katholischen Gegenden nicht mehr selbstverständlich, um so erfreulicher war dieses Kleinod. Warum es hier keinen Pilgerstempel gab? Bitte nicht fragen…

Nach der Hilligen Seele wird es immer sauerländischer, sprich „gebirgichter“. Der Weg ist an vielen Stellen verwirrend ausgeschildert, aber ich wollte eh per Komoot über St. Achatius in Atteln durch das malerische Altenautal laufen, als Abstecher zur Taufkirche vieler meiner Vorfahren. Aber das Gotteshaus war enttäuschenderweise verschlossen. Und so machte ich mich rasch auf zum Dorf meiner Großeltern: Husen. Die alte Pfarrkirche St. Maria Magdalena ist bei weitem nicht so alt wie das 975 Jahre alte Husen selbst. Aber dennoch ist das Dorf stolz auf seine Vergangenheit an einem alten Handelsweg. Ich bin wiederum stolz, dass ich auch aus diesem kleinen Ort stamme. Und die Gastfreundschaft meines Großvetters Hans-Bernd Janzen, Ortsvorsteher und Stv. Landrat, werde ich „nie verchässen“! Wir haben abgemacht, dass ich den fehlenden Pilgerstempel in Husen spenden werde!

Zweiter Tag: Es geht ins Sauerland!

Irgendwo zwischen Husen und Dalheim steht ein Stahlpilger.

Das „Kloster“ Dalheim und sein famoses Museum für Klosterkultur kenne ich gut. Da ich 33 Kilometer Strecke machen musste, hielt ich mich nicht lange auf. Doch immerhin bekam ich einen improvisierten Stempel im Klostermuseum, das erstaunlicherweise nicht direkt auf dem Weg lag. In Meerhof kam ich in das heutige Sauerland, das historisch noch gemeinsam mit Marsberg zum Hochstift Paderborn gehörte. Auch in den nun folgenden relativ reich ausgestatteten Dörfern des kargen Sintfelds bekam ich keinen Hinweis auf den Jakobsweg, geschweige denn einen Stempel. Die Kirche in Oesdorf war geöffnet, die in Essentho nicht. Aber gemessen an den Dörfern, die ich bis zur Weser durchlaufen habe, gibt es hier noch Leben: Läden, Bäcker, Vereine, Volksbanken und Sparkassen.

Auf Marsberg war ich sehr gespannt. „Stadtbergen“ liegt außerordentlich schön. Niedermarsberg macht einen sehr touristisch aufstrebenden Eindruck, der Aufstieg zum „Kloster“ Obermarsberg ist geradezu alpin. Die Stempel beider Pfarreien bekam ich nur, weil das Pfarramt im Tal zufällig geöffnet war. Die ehemalige Propstei Obermarsberg ist ein Juwel für Pilger, die Stiftskirche ist so beeindruckend wie ihre Lage. Aber auch hier gab es keinen Hinweis für Pilger. Immerhin: die Bedeutung des alten Handels- und Pilgerwegs hält die Familie Böttcher hoch. Das Wappen des Pilgerstempels vor dem Haus richtet sich nach dem Hauswappen vom barocken Stiftspropst Ferdinand von Metternich. Kein Wunder, die Böttchers sind schon mehrfach den Weg in Spanien gewandert. Ich wünsche dem Haus viele Besucher!

Nach Obermarsberg ging der Weg über wunderbar romantische Kuh-Wiesen in das gastfreundliche Giershagen. Kirchenvorstand Manfred Göbel vermittelte mir eine Übernachtung im Pfarrheim St. Fabian und Sebastian. Es sollte weit mehr als eine Übernachtung werden!

Als ich im Pfarrheim ankam tagte gerade der Vorstand. Die Familie Jäger bot mir nicht nur ein leckeres Abendessen sondern gleich auch ein Frühstück an, das mich für den weiteren Weg stärkte.

Dritter Tag: das Sauerland ist wunderschön

Giershagen zeigt sich von seiner besten Seite, wenn man es Richtung Padberg talabwärts verlässt, zumal bei spätsommerlichem Wetter mit Morgennebel. Ein besonderer Höhepunkt ist die Wüstung Klushagen, deren alte (mal wieder verschlossene) Kirche samt Friedhof eine hohe Bedeutung erfahren lässt.

Das „Sauerlandfeeling“ stellt sich nun im Wald so richtig ein. Aber auch die Orte zwischen und auf den Hügeln erliefen sich wunderbar. Neben Natur und katholischer Kulturlandschaft gibt es am Wegesrand zunehmend Relikte und Stollen des Bergbaus, der hier im Mittelalter begann und sich nach Norden in das Ruhrgebiet verzog. Der Weg führt durch das idyllisch gelegene Padberg mit seiner überdimensionalen neobarocken Kirche nebst einer älteren und liebevoll renovierten Fachwerkssynagoge in dass malerische wie frühindustriell geprägte Messinghausen. Über Gudenhagen ging es schnurstracks nach Olsberg und Bigge. Hier wollte ich eigentlich in der Kath. Gemeinde St. Martin im Pfarrheim übernachten. Aber es lag an mir, dass ich mich nicht rechtzeitig beim Pfarrer rückversichert hatte und so konnte ich ihn nur viel zu spät erreichen. Da war ich schon auf dem Weg nach Geverlinghausen zu seinem neoromantischem Industriellenschloss. Dass es mit Bigge nicht geklappt hatte, war keine Katastrophe, da ich am Folgetag eine sehr lange Strecke vor mir hatte. Das kleine Landhotel, was mich improvisiert gastfreundlich aufnahm, entschädigte mich. Der Besitzer Julian Becker hatte erst kürzlich den Gasthof nach vielen Jahren in China erworben. Spannenderweise war Julian viele Jahre in Brüssel im Europäischen Parlament tätig. Wir hatten uns viel zu erzählen, wie gut es manchen tut, mal von Europa Abstand zu nehmen. Gut, dass man (mit oder ohne Europa) am Ende eben doch in der westfälischen Provinz landet…

Vierter Tag: der Gewaltmarsch mit Umweg

Bergarbeiterdorf Ramsbeck

Diese Etappe sollte es in sich haben, denn ich wollte unbedingt bis 17:30 Uhr in der St. Peter und Paul-Kirche in Eslohe an der heiligen Messe teilnehmen und noch dazu über Heringhausen einen Umweg über das Dorf meiner Ururgroßmutter Frederike Wünnenberg (Ramsbeck) laufen. Mein Umweg hieß mich früh aufzustehen. Mein famoser Gastwirt ließ mir eine Lunchpaket an der Treppe und so ging es um 04:30 Uhr mit Frühstück im Gepäck los. Mit Kopflampe ging es in den Wald. Ich machte gut Strecke in eine Gegend hinein, die kontrastreich für Industrialisierung und alte religiöse Tradition steht. Meine Ururgroßmutter wurde 1850 in Ramsbeck geboren, mitten in die Boomzeit des Blei- und Zink-Bergwerksdorfes. Noch heute spürt man in Ramsbeck eine Art „Zinkgräberstimmung“, höchstwahrscheinlich hat etwas zwischen blanker Not und dieser Stimmung meinen Urururgroßvater Anton Wünnenberg in dieses Bergarbeitertal gezogen. Frederike selbst heiratete meinen Ururgroßvater 1873 im nördlichen ruhrgebietlichen Eickel. Die westfälischen Familien schwankten zwischen zwei Welten: Landwirtschaft und Bergbau, so auch meine Familie. Und auch ich spürte zu Fuß zwei Welten. Das zeigte sich beim steilen Aufstieg von Ramsbeck Richtung Westen. Das ländliche Westfalen hatte mich zurück. Noch abseits des Pilgerweges im romantischen Dorf Blüggelscheidt öffnete mir ein Dorfbewohner die St.-Sebastian-Kapelle. Jeden Satz endete er mit einem „woll“, so dass ich fast nachhaken wollte, ob er Holländer sei, die heutzutage das Sauerland vielfach bevölkern. Er später erfuhr ich, dass das „Woll“-Westfälische wohl zu dieser Gegend gehört.

Weihnachsbaumbarriere im Sauerland

Kurz danach war ich wieder auf dem Jakobsweg. Im Herbst 2018 wurde der ausgeschilderte Weg immer wieder durch abgezäunte Weihnachtsbaumkulturen unterbrochen. Ich hatte viel Mühe, die westfälischen Weihnachtsbäume zu umgehen.

Dann aber kam ich in eine Region, die sehr sehr stark in der Tradition der Pilgerwege steht. Da ist vor allem Remblinghausen St. Jakobus d.Ä., das schon mit seiner Nothelferkapelle auf eine alte Jakobspilgertradition hinweist. Kirche und Ort zeigten viel Offenheit für Pilger. Menschen habe ich allerdings zur Mittagszeit nicht getroffen. Aber immerhin: es war eine herrlich barock ausgestattete Kirche mit einer Jakobusstatue, die an die vielen früheren Pilger erinnerte. Zudem wirkte der paderbornische Barockkünstler Anton Joseph Stratmann in der Kirche.

Jakob in Remblinghausen

Den folgenden Ort Herhagen ließ ich schnell hinter mir, um nach Reiste zu gelangen. Die imposante St. Pankratius-Kirche war zwar geöffnet, bot aber keinen Stempel. Unerhört! Immerhin konnte ich mit einer Küsterin länger über den Jakobsweg sprechen. Auch das (aus meiner Sicht) Straßendorf Bremke ließ ich hinter mir, schließlich musste ich es rechtzeitig über den Berg nach Eslohe schaffen. Die Gemeinde St. Peter und Paul liegt zwar abseits des Jakobsweges, doch fand ich dort Unterkunft. Denn Gemeinde und Ort lohnten ungemein. Pünktlich zur Messe öffnete sich mir das Pfarrheim. Die Messe war imposant gut besucht. Der humoristisch strenge Pfarrer zog alle Register zum Erntedank. Im Anschluss wurde mir im Gespräch ein Frühstück im Nachbardorf angeboten. Ich verbrachte die Nacht im Jugendheim neben dem Billiardtisch, nicht ohne um zuvor köstlich in der Esloher Domschänke mit dem Gastwirte Werner Schulte und Gästen über Westfalen und Schnapps zu klönen. Lecker war es.

Fünfter Tag: hinter Elspe muss es dann gut sein

Ich bin dann doch früher aus dem Pfarrheim in Eslohe aufgebrochen. Eine tolle Gastfreundschaft wartete auf mich. Im Esselbachtal erwartete mich Familie Winkelmeyer im kleinen Örtchen Bremscheid zum Frühstück. Einfach so! Anschließend brachte mich der Tischlermeister zur angrenzenden Kapelle, wo Josef Bürger uns die kleine Jakobskapelle aufschloss. Er hatte viele Geschichten zu erzählen.

Bei schlechterem Wetter ging es weiter Richtung Elspe. Die kleinen Ortschaften fielen, wie schon die Strecken zuvor, durch viele heimelige Hofkapellen auf. Kurz vor der Elsper St. Jakobus-Kirche führte der „neue“ Pilgerweg aus Paderborn auf die Heidenstraße, die mich noch bis nach Köln führen soll. Elspe Gemeinde beeindruckt mit viel nach außen getragenem Jakobus-Marketing. Doch zu meiner größten Überraschung war am Sonntagnachmittag die Kirche geschlossen. Die zahlreichen an der Infotafel angegebenen Stempelst

St. Jakobs-Kirche Elspe

ellen waren geschlossen, so dass ich nach einigen Telefonaten einen halben Kilometer zurücklaufen musste, um bei einer Pension am Ortseingang den „wichtigsten“ Stempel meines Weges zu erhalten. Ich hatte anscheinend nicht genug Strecke hinter mir. In Elspe waren auch alle ordentliche Gasthöfe geschlossen, so dass mir Richtung Grevenbrück nur noch der Drive-In-McDonalds blieb. Das war mir aber auch egal. Kultur und Natur hatte ich inzwischen genug erlebt und so legte ich mir auch die Elspe-Karl-May-Festspiele au den Weg, bevor ich meinen Burger im amerikanischen Spezialitätenrestaurant verschlang. Der Weg zum Bahnhof Grevenbrück war dann nicht mehr weit. Der Ersatzverkehr brachte mich nach Hagen und der ICE schließlich nach Berlin. Die nächste Etappe wird nach Köln gehen. Ein wenig Sauerland kann ich mir somit noch gönnen. Es war herrlich schön anstrengend! 970 km seit Berlin hinter mir!

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