Korruptionsbekämpfung in Europa – die EU ist nicht gut genug, aber oft besser als die Nationalsstaaten…

IEP Berlin
Jahrbuch der Europäischen Integration – Institut für Europäische Politik e.V.

Es hätte ein Jahr der Konsolidierung für die Infrastruktur für Interessenvertretung in der Europäischen Union werden können. Seit zwei Jahren legen erstmals alle Gesetzgebungsorgane externe Einflussnahme offen. Mehr und mehr Mitgliedstaaten folgen dem europäischen Vorbild zur Registrierung und Einordnung von Lobbyinteressen.  Aber es wurde das Jahr umfassender Ermittlungen gegen Vorteilsnahme im Umfeld des Europäischen Parlamentes (EP), unter dem Schlagwort „Katargate“. Die Reaktion von Europäischem Parlament und Kommission wirkt ein Jahr vor der Europawahl bemüht wie hilflos. Immerhin wird die Rolle von Drittstaaten auch über Russland und China hinaus intensiver beleuchtet (bei Transparency International Deutschland beleuchtet unter: Strategische Korruption), während die Covid-19-Pandemie der letzten Jahre und ihre Auswirkung auf Lobbyismus weit zurückzuliegen scheint.  Transparenz in der Gesetzgebung ist keine ausschließliche Frage der Korruptionsbekämpfung oder der Fairness im Lobbying unterschiedlichster Gruppen gegenüber EU-Gesetzgeber:innen. Das gesamte Integritätssystem von Interessenvertretung und Gesetzgebungsorganen im Mehrebenensystem steht ein Jahr vor der Europawahl demokratierelevant auf dem Prüfstand. Die Einbindung des Rates in das System war ein erster nicht zu unterschätzender Schritt. Aber verstärkte transparente Rechenschaftspflichten der Mitgliedstaaten sind selbst in der belgischen EU-Ratspräsidentschaft 2024 nicht zu erwarten. Es gibt nur zaghafte Ideen für einen allumfassenden „Lobbyact“, der alle Aspekte der für Demokratie notwendigen transparenten Interessenvertretung mit Korruptionsbekämpfung unter einheitlichen Ethikregeln europäisch wie national sinnvoll miteinander verbindet. Ein Mehrebenen-Lobbyregister ist trotz zunehmender Angleichung der Regeln in EU und Mitgliedstaaten Zukunftsmusik. Derweil wird legitimer notwendiger Lobbyismus ab 2024 einen Gang zurückschalten, da der EU-Gesetzgebungsprozesses am Ende des Politikzyklus steht. Mein Artikel „Interessenvertretung 2023“ erscheint Ende des Jahres hier: https://iep-berlin.de/de/projekte/zukunft-der-europaischen-integration/jahrbuch/ 

Lobbyismus in der EU und auf Holz…

„Lobbyismus in der EU“ ist meist ein sehr einseitiges Thema. Für viele kommt alles Böse über Lobbyismus aus Brüssel. Eine toxische Kombination, fürwahr. Im längst überfälligen Handbuch für Lobbyismus von Andreas Polk und Karsten Mause bekam ich dankenswerterweise Platz, das Thema Lobbyismus in Mehrebenensystem der EU ganz ohne Schaum vor dem Mund darlegen zu können.  Nun ist sogar die 

Holzausgabe der längst digital verfügbaren Seiten erhältlich. Mit tollen Kapiteln toller Autor:innen. Alles an einem Ort, mit viel Tiefgang. Und es ist schön, ein dickes Buch in den Händen zu halten. Ich liebe Bücher. Bei der Entstehung des Werkes war ich enorm beindruckt von der Unterstützung von Andreas Polk und Karsten Mause. Aber es kam (wohl nicht nur bei mir) großer Frust über mangelnde Unterstützung durch den Verlag auf.

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EU-Lobbying in der Pandemie

Interessenvertretung vulgo Lobbying in der EU – mein Beitrag im Jahrbuch der Europäischen Integration 2021: Die Covid-19-Pandemie hat auch auf die intermediäre Einflussnahme von Politik und Gesetzgebung große Auswirkungen. Lobbyismus fand im Berichtzeitraum zu einem großen Teil nicht mehr vor Ort in Brüssel oder den Hauptstädten, sondern telefonisch/digital statt. Gleichzeitig vollzog sich der Legislativprozess außerhalb des üblichen Politikzyklus. Für Gesetzesinitiativen und langfristige Finanzpakete bestand kaum Raum für Konsultationsprozesse.

Dies betraf neben dem Mehrjährigen Finanzrahmen vor allem das Rekord-Wiederaufbauinstrument „Next Generation EU“.  Im Umfeld einer klimapolitischen und auch digitalen Dringlichkeit wären in „normalen Zeiten“ Lobbyaktivitäten sehr viel stärker sichtbar. Dies betrifft ebenso die Bedingungen für den Austritts des Vereinigten Königreiches aus der EU. Gerade wegen der Krisensituation war umso bemerkenswerter ein struktureller Fortschritt in der Governance des Rates der Europäischen Union.

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Europa ist es wert!

Am Expertentext „Europa ist es wert“, den ich gemeinsam mit Kolleg:innen für die Bischöfliche Arbeitsgruppe Europa verfasst habe, werden auch sozialethische Überlegungen zur Rolle der Kirche in der Gesellschaft und in Europa erörtert. Die Deutsche Bischofskonferenz hat heute den Beitrag zur europäischen Integration aus katholischer Sicht und Denkanstöße zur zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union (EU) als Friedens- und Demokratieprojekt veröffentlicht.

Der Expertentext richtet sich an eine breite Öffentlichkeit. Er skizziert zunächst historische Entwicklungen und beleuchtet die aktuellen Diskurslinien im Selbstverständnis der EU. Auf dieser Basis und anhand von Prinzipien der katholischen Soziallehre werden vier europäische Politikfelder näher betrachtet und Impulse für deren Entwicklung formuliert:

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Das Mittelfeld der Europapolitik framen

Gemeinsam mit Elena Sandmann habe ich das Framing zu Zivilgesellschaft und Lobbyismus in der EU untersucht. Der Beitrag beleuchtet den Zusammenhang zwischen politischer Einflussnahme von Interessengruppen im EU-Gesetzgebungsprozess und pluralistischer Demokratie im europäischen Mehrebenensystem. Dabei geht er der Frage nach, ob (zivil-) gesellschaftliche Interessenvertretung analytisch vom (Wirtschafts-)Lobbyismus unterschieden werden sollte. Zentrale These ist, dass Interessenvertretung nur im Kontext größerer Transparenz aller beteiligten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, staatlichen, gesetzgeberischen und mittelbaren Akteure zu mehr Demokratie und Legitimation im Mehrebenensystem der EU beitragen kann. Read more

Was Europas Demokratie aus-macht…

Wie lässt sich erklären, dass die Demokratie in der Europäischen Union unter solch einem populistischen Druck steht? Was macht Europas Demokratie in Zukunft aus? Antworten fallen schon im normalen Leben nicht leicht. Aber die Hauptrede des Jahres vor Contheodorianer/inne/n meines Gymnasiums zu halten ist dann doch etwas ganz Besonderes. Es wurde ein Vortrag über die demokratische Relevanz Europas aus beruflicher und persönlicher Perspektive. Mein Fazit: seit meinem Abi90 hat sich die Gesellschaft schleichend entdemokratisiert, auch zum Schaden der europäischen Idee.

Mein Vortrag auf dem Theodorianerabend 2017 am Gymnasium Theodorianum in Paderborn

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Alles was EU-Recht ist… leider nicht immer nationale Politik

Auf Defizite hinweisen, aber Alarmismus vermeiden. Dies gilt vor allem für das größte Netzwerk für Europapolitik in Deutschland. Das jüngste EuGH-Urteil zur Dublin III-Verordnung ist europarechtlich zu begrüßen, politisch fordert aber die EBD schon seit langem, dass mehr Solidarität in Flüchtlings- und Asylfragen herrschen muss. Dublin III müsse abgeschafft werden, fordern die EBD-Mitgliedsorganisationen schon seit 2015.

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Für mehr „Lille Demokrati“! bei Pulse of Europe

Mehr grenzüberschreitenden Dialog und mehr Einsatz für die „Demokratie im Kleinen“ist für mich der richtige Weg, um Europa stark zu machen: Am Pfingstsonntag sprach ich bei Pulse of Europe in Berlin. Trotz Regens waren mehrere Tausend Proeuropäer auf den Gendarmenmarkt gekommen, um Flagge für die EU zu zeigen.

Die Berliner Organisatoren von Pulse of Europe hatten mich eingeladen, für die Europäische Bewegung Deutschland, aber auch als Vizepräsident der Europäischen Bewegung International zu sprechen und einige Impulse für die Zukunft und Weiterentwicklung der EU zu geben.

Meine vorbereitete Rede zum Nachlesen:

„Schließen Sie einfach die Augen. Stellen Sie sich vor, Sie sind Holländerin oder Holländer, sie stehen auf einem großen historischen Platz in Den Haag, drei Jahre nur nach dem Zweiten Weltkrieg.

Nein, nichts ist schwarzweiß, die alten Häuser sind bunt, aber Ihr Hass auf die Besatzung, die aggressiv mordenden Deutschen ist noch nicht verflogen. Und Sie haben sie gesehen, die vielen Repräsentanten aus ganz Europa: Künstler, Gewerkschaftler, Wirtschaftsvertreter, Politiker, Wissenschaftler, Diplomaten, die in Ihre Stadt kamen. Viele von Ihnen sind ausgemergelt, erschöpft, viele sind dem Morden an der Front oder den Brandbomben entkommen, einige haben gar das KZ überlebt. Wenn Sie die Augen wieder öffnen: es waren 40.000 Menschen auf dem Platz und 700 Abgesandte im Ridderzaal, damals am 10. Mai 1948.

Überlebende Repräsentanten der demokratischen, gesellschaftlichen Kräfte begründeten damals die Europäische Bewegung. Und das größte Wunder: Sie einte die Verantwortung für ein Vereintes Europa. Ob Links, ob Rechts, ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, ob hoch ausgebildet oder Selfmade-Demokraten. Die Versammlung im Ridderzaal war zwar zu sehr männlich dominiert, aber wirklich demokratisch, pluralistisch und nach besten Möglichkeiten repräsentativ.

2018 jährt sich dieses Ereignis zum 70. Mal. Wie 1948 können wir in Europa es nicht allein der Politik und den Beamten überlassen, dass Menschen grenzüberschreitend zusammenarbeiten und zusammenhalten. Es ist eine Illusion, dass Staatskanzleien und Sherpas in EU-Gipfeln dies leisten könnten. Wir brauchen nicht nur elitäre Intelligenz, sondern auch die zwei Prinzipien der Schwarmintelligenz: immer in Bewegung bleiben, sich aber nie zu weit vom Nachbarn entfernen.

Wir müssen wieder auf Demokratie in allen Lebensbereichen drängen – und zwar in ganz Europa. Aktive Demokratie lernt man nicht in Verwaltungsschulen! Demokratie ist hier auf dem Gendarmenmarkt, beim Nachbarschaftsfest, bei der Klassensprecherwahl, im Betriebsrat, in der Handelskammer, aber auch im Kaninchenzüchterverein. Der Schriftführer, die Klassensprecherin, die Engagierten bei Pulse of Europe – sie alle tragen Verantwortung!

Die Dänen nennen das „Lille Demokrati“. Die kleine Demokratie, die Demokratie im Kleinen! Wir brauchen nicht nur Wahlen und Parlamente, die große Demokratie! Wir müssen uns in kleinen und großen Initiativen – ad hoc aber auch nachhaltig – zusammentun.

Demokratie ist, in Ämtern ehrenamtlich Verantwortung zu übernehmen, aber auch die unangenehme Erfahrung, Wahlen zu verlieren. Demokratie ist anstrengend, langwierig und langweilig. Demokratie ist Opposition.

Aber haben wir nicht seit den 80ern Demokratie europaweit abgebaut? Verachten wir nicht zunehmend Vereinsmeierei, so wie früher Parlamente als Schwatzbuden diskritiert wurden? Streben wir nicht nach elitärer Führerschaft mit dem großen Auftritt, anstatt mit gesundem Menschenverstand und im Wettbewerb für das Gemeinwohl oder auch einmal für Einzelinteressen einzutreten?

Und was ist mit der Wessi-Arroganz gegenüber Ostmitteleuropa? Gegenüber denjenigen, die kommunistische Zwangsmitgliedschaften verachten und denen, die sich jahrzehntelang nicht demokratisch selbst organisieren durften? Auch sie müssen wir mitnehmen auf unserem demokratischen Weg!

Eine große bundesstaatliche Europaidee ist bereits vor 68 Jahren gemeinsam mit der Europäischen Verteidungsgemeinschaft gescheitert. Das Vereinte Europa entwickelte sich seitdem über wirtschaftliche Kooperation, die uns stets grenzüberschreitend die Augen geöffnet hat. Europapolitik hat es dann verstärkt mit der wirtschaftlichen Integration versucht. Regeln sind gut und brauchen Bürokratie. Aber Technokraten sind oft demokratiefremd oder gar -feindlich. Das spielt den Populisten in die dreckigen Hände.

Früher stand vor jeder westdeutschen Stadt ein blaues Schild: „Gemeinde Europas“, darunter standen die Namen aller Partnerstädte. In Tempelhof steht glaube ich immer noch eins. Es rostet vor sich hin … Denn längst wurden die kommunalen Beauftragten für Jugendaustausch ersetzt durch Beauftragte für EU-Recht – zur Abwehr eines echten oder vermeintlichen Brüsseler Bürokratiewahns? Und wenn Politik vor Ort leichten Herzens Europa technokratisch-bürokratisch abwickelt, wie kann man dann den relativ wenigen Beamten in Brüssel „Eurokratie“ vorwerfen?

Europapolitik ist Innenpolitik. Wir müssen sie überall leben und demokratisch gestalten: In den Verbänden, natürlich in den Parteien, möglichst grenzüberschreitend. Wir brauchen europäische Spitzenkandidaten für Spitzenpositionen. Aber nur 2 % von uns sind Parteimitglieder. Das reicht nicht für eine funktionierende Demokratie.

Wir müssen das demokratische Europa auch überall vorleben: Im Bäckerhandwerk, im Jugendverein, in der Wirtschaft, in der Diakonie, ja auch in den Medien und in der Schule – einfach auf allen Ebenen und möglichst grenzüberschreitend. Städtepartnerschaften, horizontaler grenzüberschreitender Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern aus allen Ecken Europas, all das muss nachhaltig gestärkt werden.

Ich hätte es nie zu träumen gewagt, aber die Europafahne ist zur Fahne der Demokratie und der Freiheit geworden. Ob bei Pulse of Europe, beim March for Europe, bei den anti-Korruptions-Demos in Bukarest, antiautoritäre Demos in Warschau oder Budapest oder anti-Brexit-Demos in London: Die Europafahne ist ein Zeichen der Hoffnung. Dank Ihnen ist das auch Rückenwind für die Europäische Bewegung und ihr länderumspannendes Netzwerk aus 80 internationalen Organisationen und 250 Organisationen hier in Deutschland. Wir brauchen den demokratischen europäischen Geist auf der Straße, das mächtige Signal: „Wir wollen Europa – und wir sind viele.“ Wir brauchen diesen Geist aber auch bei allen gesellschaftlichen Kräften, ob in Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Flüchtlingsinitiativen, beim europäischen Schülerwettbewerb, in Gewerkschaften oder in Handelskammern.

Vernetzt, vielfältig und verantwortlich!
Das ist das demokratische Europa! Tragen wir gemeinsam den Pulse of Europe weiter! In Vereinen, Verbänden und auf Europas Plätzen!

Dankeschön!“

Das vollständige Video der Rede

 

EU-Richtlinien sind Tarnnetze

Im Deutschlandfunk konnte ich dieses Jahr ausführlich über meinen Job bei der Europäischen Bewegung sprechen: Dabei habe ich kein Problem, wenn mich Dirk Otto als einen hauptberuflichen Lobbyisten für die EU bezeichnet. Bin ich ja schließlich! „Brexit, Flüchtlingspolitik, Populismus – die EU steht zurzeit vor vielen Herausforderungen. Dabei geht es immer wieder darum, wie die Zukunft der Gemeinschaft aussehen kann. Eine Frage, auf die auch einige EU-Visionäre eine Antwort suchen. Und die sind trotz der aktuellen Krisen noch immer optimistisch.“

„Der 46-Jährige ist Generalsekretär des deutschen Ablegers der Europäischen Bewegung. Diese Dachorganisation vereint Gewerkschaften, Unternehmen, gemeinnützige Organisationen und Vereine, die sich für eine stärkere europäische Integration einsetzen wollen. Die Europäische Bewegung wird dabei vom Auswärtigen Amt gefördert und arbeitet eng mit Bundesregierung, Europäischer Kommission und EU-Parlament zusammen.

Hüttemann blickt nicht von Brüssel, sondern von Berlin aus auf das Geschehen in Europa. Von Krisenstimmung ist bei ihm nichts zu bemerken: „Ich habe noch nie so viele Menschen erlebt, die sich mit Europapolitik beschäftigen. Das ist einfach so, dass die Politik, die Innenpolitik, die jahrelang einfach nur nationale Themen gefahren ist, auf einmal europäische Themen fährt. Insofern ist das eigentlich sehr positiv gerade.“ Wenn Bernd Hüttemann von der EU spricht, benutzt er gern das Bild einer Familie. Auf der einen Seite die Eltern, die Nationalstaaten und auf der anderen Seite ihr gemeinsames Kind, die EU. „Sie ist nicht so stark, wie man geglaubt hatte, dass sie es sei. Aber man hat das Kind ja groß gezogen. Und die Eltern vergessen vielleicht manchmal, inwiefern das Kind Bedürfnisse hat, inwiefern man es alleine laufen lassen muss auch in bestimmten Bereichen und inwiefern man das Kind auch wieder zurückholen muss in bestimmten Bereichen. Aber letztendlich ist es eine Familie zwischen Nationalstaaten und der Europäischen Union. Und da funktioniert es gerade nicht.“

Kritik an den Nationalstaaten

Hüttemanns Kritik richtet sich an die Nationalstaaten: Sie müssten die Europäische Union ernst nehmen. Das Kind sei erwachsen. Dabei verweist er auf das Grundgesetz: In Artikel 23 ist die Entwicklung der EU als Staatsziel festgehalten: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit“, heißt es dort. Auch, wenn das bei weitem nicht immer einfach ist.

„Dennoch ist es aber für ein neues Konstrukt, also Kind, was gerade erwachsen wird, besonders schädlich, wenn mal was schiefgeht und etwas nicht funktioniert. Denn dann wird gesagt: Es ist ein Halbstarker. Und das kommt nicht gut an und macht dann aber auch die Institutionen selber nicht selbstsicherer und besser. Ich glaube, wir müssen mehr Verantwortung wieder haben für die Gemeinschaftsorgane und die Gemeinschaftsstrukturen der Europäischen Union. Und da haben die Nationalstaaten auch ihr Süppchen zu beigetragen, aber auch die Interessengruppen durchaus.“

Stellt euch den Marktschreiern! Raus aus den nationalen Klöstern!

Dieser Artikel erschien in den Europathemen des Deutschen Beamtenbundes im März 2017.

Da stehen wir nun vor einem riesigen Salat unterschiedlichster Meinungen, schwerverdaulicher Geschichten und dreister Lügen zwischen Krim, Brexit und nun auch noch dem Weißen Haus: Politik wird zu einer Kakophonie der Ängste. Dieser Artikel behandelt nicht die Ängste des „kleinen Mannes auf der Straße“ (es kann auch eine Frau sein!), sondern die Nachrichten und Meinungen, die ihn oder sie beeinflussen. Der öffentliche Diskurs geht in einer pluralistischen Gesellschaft zwischen Akteurinnen und Akteuren hin und her – auf vielfältigen Kanälen. 2017 ist das Reformationsjubiläum. Ob Martin Luther seine Thesen an die Wittenberger Schlosskirche buchstäblich angenagelt hat oder nicht: Sicher ist, dass Flugblätter und Druckerpressen eine enorme Rolle spielten in der Verbreitung reformatorischer Ideen. Manche sagen, die Reformation hätte ohne die Medienrevolution des Buchdrucks kaum eine Chance gehabt. Andere behaupten, die Rolle des Buchdrucks werde überschätzt, zumal doch die allermeisten Analphabeten waren. Es lohnt sich, die Zeitenwende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit mit der heutigen Kommunikationsrevolution zu vergleichen. Hangeln wir uns an diversen Medien entlang durch unterschiedliche Sphären. 

Wikipedia, die unbekannte Meinungsmacht

Vorweg die große Unbekannte der Sozialen Medien: Bei einer EBD-Veranstaltung zum Thema „Bildung 4.0“ habe ich als Moderator die Frage gestellt, wer Wikipedia nutzt: alle anwesenden Bildungsexperten passiv, viele sogar unzitiert als Quelle für ihre tägliche Arbeit. Aber nur drei Prozent der Anwesenden gaben an, je das größte Lexikon der Welt mit verbessert zu haben. Sozialwissenschaftler geben ihr Wissen offensichtlich ungern weiter. Trotzdem erreicht Wikipedia auch in der Europapolitik eine erstaunliche Qualität. Vor Jahren hat eine Gruppe von Trainees und Studierenden sämtliche europapolitischen Artikel in Wikipedia kategorisiert. Und Kategorisierung beeinflusst den Algorithmus von Google. Denn nur so weiß die Suchmaschine, dass ein MdEP zur EU und nicht zum Europarat gehört. Zum Lohn landet Wikipedia bei Google stets ganz vorn. Wirkmächtiges Wikipedia ohne offizielle Lehrmeinung: An deutschen Unis wird dieses „Making-of Wikipedia“ bis heute weder verstanden noch gelehrt. Sollen Novizen des 21. Jahrhunderts nicht erfahren, was oder wer eine Meinung außerhalb der Klostermauern bildet?

Twitter, zwischen PR und Netzwerken

Einmal fragte mich ein Lobbyist in Brüssel, der gerade aus der Spitze der deutschen Ständigen Vertretung bei der EU in die freie Wirtschaft gewechselt war, zu Twitter aus. Er war irritiert, dass außerhalb seiner bisherigen Erfahrungswelt so ungefiltert Wissen verbreitet werde. Viele Lobbyisten leben davon, Informationsmonopole aufzubrechen – ganz diskret. Und nun gibt es plötzlich Informationen transparent „für umme“. Und: Woher ich nur die Zeit hätte, all die Tweets zu lesen? Aber man liest Twitter nicht wie eine Sonntagszeitung. Im guten Sinne kann man Twitter mit einem gehaltvollen Gesprächsabend oder aber auch einer Hausparty mit spannenden Themen vergleichen, nur über den ganzen Tag in Dosen verteilt. Man folgt denen, die einem interessant erscheinen, um daraus zu lernen, über ideologische und sonstige Grenzen hinweg Zusammenhänge herzustellen, und um sie mit möglichst interessanten Tweets an sich selbst zu binden. Ja, eitel ist Twitter wie das echte Leben.

Die noch eitlere und „dunkle“ Seite von Twitter manifestiert sich gerade im US-Präsidenten. Mit Twitter erreicht Donald J. Trump ungefiltert den „kleinen Mann“ und verunsichert bewusst das Establishment, global. Umgekehrt brachte es jüngst der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt auf einen Aufmerksamkeitsrekord, als er auf Trump reagierte. Twitter ist kein Freund geschlossener Räume. Es stellt etablierte Medien und ihre Kunden in Frage, kann aber auch positiv gegensteuern oder gar Pressezensur umgehen. Despoten kämpfen gegen diese ungebremste Freiheit der Meinung, ob während der Arabellion oder seit Jahren in der Türkei.

Die Diplomatie fremdelte zunächst. Ende 2010 fragte ich den Planungschef des Auswärtigen Amtes, woher sein Haus „Intelligenz“ über Soziale Medien während der Arabellion bekäme. Seine Antwort war: „Wir vertrauen unseren Freunden im State Department.“ Die EBD war da schon seit einem Jahr mit dem Twitter-Account @NetzwerkEBD aktiv. Das Auswärtige Amt folgte 2011 schließlich doch einer Social Media-Strategie und gleich zu Beginn der EBD. Mit gut einer halben Million Follower hat das AA die EBD längst weit überflügelt, doch werden die Chancen einer echten „European Public Diplomacy“ noch zu wenig genutzt. Dabei wäre keine Berufsgruppe besser geschult, mit wenigen Worten das Richtige zu sagen, als Diplomaten. Obwohl weiter eine unbegründete Furcht vor Kontrollverlust zu herrschen scheint, gab es auch diesen Tweet zum Brexit: „Wir gehen jetzt in einen irischen Pub und betrinken uns. Ab morgen arbeiten wir dann wieder für ein besseres #Europa. Versprochen! #EUref“. Chapeau!

Facebook oder die elektronischen Filterblasen

Facebook ist für viele, die sich nicht mit dem offenen System Twitter anfreunden können, die erste Anlaufstelle. Wer sich als „Proeuropäer“ bei Facebook mit „seinen Freunden“ vernetzt, bekommt das positiv zu spüren. Über alle Grenzen hinweg bekomme ich ständig Anti-Brexit-Meinungen und proeuropäische Aufrufe wie neuerdings zu „Pulse of Europe“ oder von der Europa-Union. Dass es aber noch nationalistische, rechtsextreme Blasen gibt, hat jüngst der ZDF-Journalist Florian Neuhann gezeigt. Und diese Filterblasen interagieren kaum. Die Algorithmen dahinter werden politstrategisch genutzt. Erschreckend ist die These der totalen digitalen Manipulation hinter dem Wahlerfolg Trumps: Hier wird behauptet, dass es eine digitale „Bombe“ gebe. Aber auch schon abgeschwächte Darstellungen bieten Einblicke in die medialen Abgründe, etwa zum Brexit, wie der wohl beste EU-Blogger Jon Worth argumentiert.

Viele Blasen ergeben derweil einen Schaum

In Deutschland haben wir ein Luxusproblem. Die Qualität der öffentlichen und kommerziellen Medien ist so gut, dass sie sich erst sehr spät in die Social-Media-Welt eingemischt haben. Seit Jahren sammele ich in meiner Twitterliste „EU-Presse“ öffentlich alle europapolitischen Journalisten. Und die Posts dieser Liste lese ich wie eine Zeitung. Deutsche kommen erst jüngst hinzu und nur wenige gehen über bloße Eigen-PR hinaus. Der echte Diskurs ist bei klassischen Medienvertretern noch immer die Ausnahme. Die EBD sammelt übrigens deutschsprachige EU-Journalisten auf Twitter.

Deutsche Printpressespiegel sind enorm gehaltvoll, aber auch eine nationale Welt für sich. Das zeigt „Politico Europe“, 2015 vom US-amerikanischen Politico und der Springer AG gegründet, um die Übermacht der Londoner Financial Times, früher Leitmedium für EU-Beamte, zu brechen. Der deutschsprachige Onlinewecker „Morgen Europa“ von Florian Eder zeigt täglich zum Frühstück auf, dass Europapolitik keine von Korrespondenten kommentierte Außenpolitik, sondern gemeinsame Innenpolitik ist. Der europapolitische Diskurs in der doch provinziellen Bundeshauptstadt hat sich spürbar gebessert. Das hilft auch den klassischen Dialogangeboten wie den EBD De-Briefings.

Derweil tut sich in der deutschen Europawissenschaft herzlich wenig. Universitäten und Denkfabriken werden noch lange keinen Simon Hix von der Londoner LSE hervorbringen, der ganze Vorlesungen der Allgemeinheit zur Verfügung stellt und per Twitter interagiert. Phänomenal übrigens sein Lehrstück gleich nach dem Brexit-Votum.

Wie können Medien Breitenwirkung erzielen und gleichzeitig Qualität bewahren? Können „Monopolisten“ wie Diplomaten, Beamte, Korrespondenten und Wissenschaftler im guten demokratischen Sinne aktiv werden? Für die EBD ist für die demokratische Entwicklung Europas entscheidend, dass Medien gezielt für die europäische Integration genutzt werden. Grenzüberscheitende demokratische Kommunikation ist seit 1949 Satzungsauftrag. So arbeitet die Europäische Bewegung International (EMI) dezentral und pluralistisch daran, den Diskurs zu europäisieren. Für Kirchturmdenken sorgen schon die anderen.

Ach ja, und wer behauptet, dass der Buchdruck die Analphabeten damals nicht erreicht hatte, der hat ganz sicher die Marktschreier vergessen. Aber das ist eine andere Geschichte, die der Economist schön erzählt. Die heutigen Mönche sollten in der Verteidigung ihrer alten Welt vor allem nicht bloß angewidert Flugblätter (Tweets) verdammen, sondern sich selbst aktiv einbringen. Sonst werden die Klöster und ihr Qualitätswissen von Bauernstürmen hinweggefegt.

Bernd Hüttemann ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland e.V., schreibt hier aber vor allem als Twitterer @huettemann | @NetzwerkEBD.