Am 22. Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich und seine Verbündeten mit 3,6 Mio. Soldaten die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“ kam für den zuvor mit Hitler „verbündeten“ Stalin völlig überraschend. Vor einigen Jahren habe ich die Teilnahme meines Großvaters am Überfall zusammengefasst. Heute am 22. Juni – nach genau 75 Jahren – habe ich mich an diesen dunklen Teil meiner Familiengeschichte erinnert. Es ist die Geschichte eines der vielen einfachen Soldaten, die Täter, Teil und/oder Opfer des Horrors wurden. Hier ein Auszug:
Mit der Erkennungsmarke „1286 4. M.G.Ers.Kp. 17“ wurde der 28-jährige Gustav Hüttemann am 12. Dezember 1940 Mitglied des 4. Maschinengewehr Infanterie-Ersatz-Bataillons 17 der deutschen Wehrmacht. Sie gehörte zur 131. Infanterie-Division des Heeres, die im Oktober 1940 auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne/Celle (heute Landkreis Lüchow-Dannenberg) gebildet wurde.[1] Die Rekruten, seit September kontinuierlich herangeführt, wurden durch Marsch- und Feldübungen zu einer Truppe „zusammengeschweißt“[2]. Im Februar 1941 ging es Richtung Osten. Die gesamte Division und damit das Infanterieregiment 434 wurde per Eisenbahn in das besetzte Polen („Generalgouvernement“) verlegt. Die Strecke des Transportes ist genau dokumentiert und lief von Bergen über Braunschweig, Magdeburg, Breslau, Tschenstochau, Lodz nach Warschau. Die 131. Infanteriedivision wurde der 4. Armee (Heeresgruppe B) unterstellt und lag im Warschauer Vorort Miedzeszyn. Die Soldaten hatten noch keine Waffen bei sich. Erst nach und nach wurde die Division mit Geräten, Waffen und Fahrzeugen versorgt.[3] Am 17. April 1941 begann der Vormarsch zu Fuß Richtung sowjetische Grenze, über Siedlce in Richtung Konstantinow – Brest Litowsk. Vom 22. April bis 28. April 1941 lagerte Gustav Heinrich im Raum Zaczok. Anschließend verbrachte er dann wohl, wie seine ganze Einheit, im Raum Konstantinow mehrere Wochen mit Holzfällen, um im Mai/Juni in selbst errichteten Holzhütten zu leben. Dann wurde die Division aus ihren „Waldquartieren“ an die sowjetische Grenze am Fluss Bug nordwestlich von Brest-Litowsk (heute Weißrussland) verlegt. Die 131. Division lag in der Gegend von Bubel-Łukowiska.[4] Unter den Soldaten hielt sich das Gerücht, „die deutschen Truppen erhielten freien Durchmarsch durch russisches Gebiet, um so in die Türkei zu gelangen“[5].
Am 22. Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich und seine Verbündeten mit 3,6 Mio. Soldaten die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“ kam für den zuvor mit Hitler „verbündeten“ Stalin völlig überraschend.
Auch die russischen Einheiten, die auf dem nördlichen Ufer des Bug, östlich von Niemirów (heute Polen) lagen, waren auf den Überfall nicht vorbereitet. Unbemerkt hatten sich die Wehrmachtssoldaten der 131. Division am südlichen Ufer des Bug-Fluss eingegraben, sie durften nicht rauchen und mussten äußerste Ruhe bewahren. Am 22. Juni 1941 um 3:15 Uhr begann die Artillerie von Brest-Litowsk kommend ihr Feuer auf die unvorbereiteten russischen Soldaten. Nun begann auch für Heinrich Hüttemann der mörderische Krieg. Schlauchbootkommandos überwältigten einen russischen Beobachtungsposten in einer gegenüberliegenden Windmühle und rückten vor. Im Laufe des Tages wurde eine Brücke gebaut, um die schweren Waffen über den Bug zu bringen. Die Division überrannte ohne nennenswerte Verluste die schwachen russischen Stellungen. Zunächst ging es über Krynki nach Panki, das man am Abend erreichte und zur Nachtverteidigung hergerichtet wurde. Um 4:00 Uhr wurde der Angriff fortgesetzt. Swietze wurde ohne große Verluste eingenommen. Die Regimenter der Division folgten dann der Vorhut geschlossen Richtung Osten. In Otsynowo erlaubte man sich eine längere Rast und erreichte zur Nacht ohne Gefechte Kruhel. Am 24. Juni ging es um 4:00 Uhr weiter Richtung Kamieniec-Litewski. Erste sowjettische Bomber-Angriffe setzen ein, verfehlten aber die Kolonnen. Die nächste Nachtruhe konnte um 23:00 Uhr in Brody eingenommen werden. Am folgenden Tag wiederholte sich der Vormarsch ohne Feindberührung. Wieder verfehlten die Bomber ihr Ziel, so dass Szereszow erreicht werden konnte. Die nächste Etappe war der Weg von Kozly nach Truchonowisze (19.00 Uhr).
Genug ist genug. Ich bin gegen die Inflation der mit „Quo vadis Europa“ betitelten Bücher, Veranstaltungen und Diskussionsrunden. Der historische Bezug zur Zukunft Europas passt einfach nicht! Mein Fazit: Fragt nicht Europa, wohin es geht, sondern den Rest der Welt! Mein Vortrag als Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland beim Rotary-Club Tiergarten am 8. August 2014. Der Artikel erschien zwischenzeitlich auch auf Papier im Magazin Europa aktiv der Europa-Union Deutschland e.V.
Europa zittert: Börse im Sinkflug, Bankensektor wackelt: Quo vadis … Quo Vadis Europa – Euro-Verfall, Bankgeheimnis Europäische Telekommunikationsregulierung: Quo vadis? Vor der Europawahl – Europa – quo vadis?
Google-Fundstücke vom 8. August 2014
Als ich dem Vortrag schon vor etlichen Monaten zugestimmt hatte, dachte ich an eine entspannte Sommerzeit, mit dem üblichen Sommertheater. Da wäre es doch wunderbar mit Unterstützern einer Organisation, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet hat, über die Zukunft der Europäischen Union sprechen zu können.
Aber selbst zwischen zwei Urlaubswochen bekomme ich einen Schrecken und Sehnsucht, dass doch, bitte schön, nur Automaut und Modellautos die Schlagzeilen prägen sollten. Wie um Himmels willen soll man bei Ukraine, Westafrika, Irak, Palästina, Israel, Krieg, Seuchen, Mord und Hass noch über die Zukunft Europa sprechen?
Nun repräsentiere ich hier ein europapolitisches Netzwerk, eine Mittlerorganisation des Auswärtigen Amtes, das 1949 aus den Erfahrungen des Krieges gegründet wurde und kommuniziere mit Rotariern, die sich den Millenium Development Goals der UNO verpflichtet fühlen. Und denen steht voran das schöne Wort: Frieden.
Frieden als Abwesenheit für Krieg und als Zukunftsszenario. Wir haben anlässlich unseres 65-jährigen Jubiläums eine Schrift eines der Gründungsväter der Bundesrepublik, aber auch eines engagierten Verfechters der europäischen Idee im Nachkriegsdeutschland veröffentlicht; Carlo Schmid zitiert darin 1949 junge Deutsche: „Wenn die Alten über das notwendige Maß an Bedachtsamkeit hinaus zögern sollten, dann werden wir Jungen ihnen das Steuer aus der Hand nehmen, denn das Schiff unserer Zukunft kommt nur mit einem Kurs zum guten Hafen: mit dem Kurs auf Europa!“
Gilt das noch heute? 65 Jahre danach? Ich bin gespannt auf die spätere Diskussion. Als wir den Titel im Vorfeld besprachen, und wie gesagt, die Krisen hatten noch nicht die Ausmaße wie jetzt, hatte ich einen Reflex. Zur Zukunft der Europas zu reden ist sicher ein lohnendes Unterfangen. Aber bitte nicht „Europa Quo Vadis“! Bitte nicht schon wieder einen solchen Titel, der mich und meine Kollegen über Jahrzehnte geradezu verfolgt. Eine gefühlte Inflation von Veranstaltungen und Publikationen mit diesem Titel hat jemanden, der beruflich und oft mit viel Kleinklein mit Europapolitik zu tun hat, schon immer gestört. Welchen Zweck verfolgen die Veranstalter und Autoren mit diesem Titel? Würde ich zu „Quo Vadis Berlin?“ oder „Quo Vadis Deutschland?“ gehen? Aber dann sagte ich mir: Tugend schlägt Not: Es muss sich lohnen, das Begriffspaar einmal näher zu untersuchen. Vielleicht lassen sich daraus tatsächlich Rückschlüsse auf die Zukunft der Europäischen Union ziehen.
Woher kommt nun der Begriff und was hilft er uns in Bezug auf die Zukunft der Europäischen Union?
Meine Eltern hatten ein gleichnamiges Buch im Schrank. Dessen Titel passte zu heimeligen familiären sonntäglichen Fernsehnachmittagen im verregneten Paderborn. In den 70ern schaute man noch kollektiv Hollywoodfilme – alte Schinken – und ja, einer hatte den Titel „Quo vadis“. Das Bild ist in meiner Erinnerung geblieben: ein grandios verrückter Peter Ustinov, der auf ein kitschig brennendes Rom schaute. Mervyn LeRoys Film von 1951 stellte einen vorgeblichen Cäsaren-Wahn Neros dar, nur 6 Jahre nach dem Weltenbrand eines eindeutigen Wahnsinnigen, der in Asche vor einem Bunker endete. Mir ist damals – trotz meiner katholischen Erziehung – nicht in Erinnerung geblieben, welche Rolle das Christentum in dem Film spielte. Zu beeindruckend waren die Zerstörungen und Verfolgungen. Ein kleiner Eindruck, wie es die Europäer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg empfunden haben müssen.
War die Stimmung in den kaltkriegerischen 70ern noch wie 1951? Ein Fragendes Quo vadis allerorten? Ich denke schon. Gehen wir noch einen Schritt zurück. LeRoys Film basierte auf dem Roman Quo Vadis des polnischen Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz. Sienkiewicz schrieb die Vorlage aber schon 1889, wie der Hollywoodfilm nicht im luftleeren Raum. Die polnische Nation war territorial aufgeteilt auf Russland, Preußen und Österreich-Ungarn. Dieser Roman gab eine ganz andere Grundlage für die Fragestellung „Quo Vadis?“.
Der Film stellte die Katastrophe und den Wahnsinn in den Vordergrund, das Buch die Verfolgung und die Hoffnung auf Erlösung, nämlich die Polens vor deutscher und russischer Unterdrückung.
Denn gehen wir noch einen weiteren Schritt zurück: Tacitus‘ Annalen erschienen zwischen 110 und 120 nach Christus. Tacitus‘ Annalen waren nur ein Teil von Sienkiewicz‘ Roman. Er griff auf unterschiedliche Motive zurück. Sein wichtigster Bezug war das Johannesevangelium 13, 37: Simon Petrus sagte zu ihm: „Herr, wohin willst du gehen?“ Jesus antwortete: „Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen.“
Die römische Legende glaubt den Ort des Geschehens zu kennen: Die Kirche „Santa Maria in Palmis” an der Via Appia, auch „Quo Vadis“ genannt. Wer davor steht, bekommt einen Eindruck, wie weit sich Petrus aus dem antiken Rom schon heraus bewegt hatte, aus Furcht vor seinen Verfolgern.
Aber Sienkiewicz bezieht sich nicht nur auf die Bibel, das wäre weniger dramatisch sondern auf die Apokryphen, die nicht Teil des katholischen Kanons sind. „Wohin gehst du, Herr?“ – „Nach Rom, um mich erneut kreuzigen zu lassen“.
Petrus kehrte daraufhin um und wurde in Rom gekreuzigt.
Nun könnte man die Legende in Bezug auf Europa vielleicht so interpretieren:
Bei „Quo Vadis Europa?“ müsste also Jesus mit Europa gleichzusetzen sein. Die Antwort auf „Wohin gehst Du Europa?“ hierauf hieße also: „Ich, Europa, gehe in das Inferno, um unterzugehen.“ Nimmt man die Interpretation von Sienkiewicz zur Grundlage, dann ist es allerdings, wie schon in der christlichen Vorstellung auch, eine Umkehr in die Erlösung. Denn wir alle wissen, an der Stelle wo Petrus mutmaßlich gekreuzigt wurde, entstand die römisch-katholische Kirche.
Nimmt man aber die Interpretation von 1951 als Grundlage, dann wird natürlich auch das Heilsversprechen nun mit einem cineastischen „Happy End“ behandelt, aber der Eindruck des Grauens und der Zerstörung muss auf die Menschen in Europa ungleich größer gewesen sein, bei allem Respekt vor dem Leiden der besetzten polnischen Nation.
Warum nun aber gibt es so eine inflationäre Nutzung der Begriffsparung „Quo Vadis Europa?“.
Hierzu eine weitere Beobachtung: „Quo Vadis Europa“ zählt Google auf Deutsch 398.000 mal, auf Englisch 616.000 mal – aber es fällt auf, dass es meist Übersetzungen deutscher Projekte und Veranstaltungen sind.
Ich interpretiere dies folgendermaßen: Es herrscht gerade in Deutschland nach dem Krieg eine Sehnsucht nach europäischen Antworten, ganz im Sinne von Carlo Schmid.
Europa ist die Zukunft. Aber gleichzeitig mischt sich darin auch eine ungläubige Skepsis. Wohin soll die europäische Integration noch führen? Können wir noch an die Heilsversprechen Europas glauben? Ich kann nicht ganz genau feststellen, ob gerade die kriegerischen Unheilsmeldungen zu einer neuen Inflation von „Quo Vadis Europa“ führen. Aber ich könnte es mir denken.
Ich weiß, es wird in diesen Tagen vielleicht zu inflationär gebraucht. Aber ich möchte Ihnen den letzten Satz in Christopher Clarks „Sleepwalkers“ vorlesen: „the protagonists of 1914 were sleepwalkers, watchful but unseeing, haunted by dreams, yet blind to the reality of the horror they were about to bring into the world.“
Clark betont an mehreren Stellen, dass sich 1914 ganz und gar von 2014 unterscheidet: heute gebe es Institutionen, die Europa einen und Antworten auf drängende Fragen der Zeit geben. Aktuell stehen außenpolitische Fragen im Vordergrund. Aber bis vor Kurzem prägten noch wirtschaftspolitische Schlagzeilen das Feld.
Der Europäisierungsprozess unserer Gesellschaften ist fast so unmerklich vorangeschritten, dass er wiederum die Frage nach einem „Quo Vadis?“ hervorruft. Wohin soll dieses „mehr Europa?“ denn noch führen? Europas Integration wird zu einem verhedderten Knäuel. Wir verlieren oft genug die Geduld es zu entwirren.
Das „Quo Vadis“ übersetzen Politologen oftmals mit der „finalité de l’Europe“. Ich wollte hier ganz bewusst nicht einen Vortrag über die unterschiedlichen Modelle Europas halten, sondern über die Gemütslage Europas, die zur Frage „Quo Vadis“ führt.
Bundesstaat, Staatenbund, Staatenverbund sind letztendlich juristische, politikwissenschaftliche Hilfskonstruktionen, wenn es darum geht, Lösungen für Herausforderungen für Frieden und Wohlstand zu finden. Längst sind wir in einem Mehrebenensystem der Demokratie in Europa angekommen, wo es natürlich knirscht und knarrt. Aber das Vertrauen in die Europäische Union ist meist höher als in den Nationalstaat.
Es lohnt sich, die Rede vom designierten Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker in diesen Tagen zu lesen: „Ein neuer Start für Europa“. Die Europapolitik baut nicht auf ganz neue Konzepte, sondern auf die konsequente Umsetzung und Verbesserung des Lissaboner Vertrages. Fast unbemerkt hat der Vertrag den allergrößten Teil des Besitzstands des Verfassungsvertrages umgesetzt. Mit der Durchsetzung des „Spitzenkandidaten“ Juncker haben die großen europäischen Parteienfamilien die nationalen Regierungen, aber auch große Teile der Öffentlichkeit überrascht, wenn auch weniger in Deutschland.
Juncker wird mit der Betonung der demokratischen Gemeinschaftsmethode, der Parlamentarisierung und des guten Regierens noch viele weitere Überraschungen bieten.
Doch möchte ich unbedingt dafür plädieren, dass wir Europa nicht mehr „Quo Vadis?“ fragen. Wir haben kein unterdrücktes, verfolgtes Europa, wir haben auch keine Zerstörung auf dem Gebiet der heutigen Europäischen Union. Wir wollen auch nicht, dass Europa durch Kreuzestod erlöst wird! Wir brauchen ein starkes, einiges, selbstbewusstes Europa, gerade in diesem „tödlichen Sommerloch 2014“.
Wie nannte noch Clark die Europäische Union anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele am 27. Juli 2014: „Eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit.“
Fragt also bitte nicht Europa, wohin es geht, sondern den Rest der Welt!
Quo vadis mundus? „Welt, wohin willst du gehen?“ fragt Europa und gibt selbst die Antwort: „Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen.“ Amen
Bildnachweis: Annibale Carracci (1560–1609) Domine quo vadis? (zwischen 1601 und 1602) – Public domain Wiki-Commons.
Hier fing Europa an? 785 unterwirft der „Franzose“ Karl der Große die „Deutschen“ in Paderborn. Das macht uns Historienmaler Ari Scheffer über 900 Jahre später glauben. Gemälde in Versailles. Quelle: Wikimedia commons
Achtung! Jetzt wird es nostalgisch. Wer eine Schwäche für das Zeitalter von Barock & Aufklärung hat und gleichzeitig europäisch arbeitet, bekam zum Jahresende eine richtig nette Lektüre geschenkt. Der Economist hat die besinnlichen Tage genutzt und das Heilige Römische Reich mit der Europäischen Union verglichen. Seine überraschenden Einsichten „European disunion done right“ (22. Dezember 2012) sollte man ausführlich lesen. „The first Eurocrats“ waren die Gesandten im „Immerwährenden Reichtstag“ in Regensburg? Ein vormodernes Gebilde gilt für die führende britische Wochenzeitschrift als Vorbild für eine europäische „Desintegration“? Wer schreibt im Spiegel den Artikel „Britische Wellenherrschaft, diesmal gut für alle“? Aber die gewagte Gleichsetzung ist keine Erfindung des Economist. Ralph Bollmannschrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Pufendorfs „irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper“ und meint damit nicht nur das Reich, sondern auch die EU. Anders als die englischen Kollegen verschweigt Bollmann die neutrale Bedeutung des lateinischen „Monstrum“.
Es war schon immer reizvoll wie gefährlich historische Parallelen zu ziehen. Legitim ist es allemal. Man muss nur die Grenzen kennen. Journalisten tauchen in die Geschichte ein. Historiker zieht es in die europäische Gegenwart. Dabei macht sich die Geschichtswissenschaft keine Illusionen. Sie sieht sich bei allem objektivierendem Bemühen nicht frei vom Zeitgeist.
Einer der führenden deutschen Frühneuzeitler Heinz Durchhardt schrieb 2007 in seinem Standardwerk zum 18. Jahrhundert: „Fast im Gleichschritt mit dem europäischen Einigungsprozess hat die Geschichtswissenschaft allgemein und die Frühneuzeitforschung im Besonderen den Reiz europäischer Forschungsansätze erkannt.“ Und er wagte einen Paradigmenwechsel. Er ersetzte den Begriff „Absolutismus“ durch „Barock“. Begründung: das Zeitalter der Nationen hat erst rückwirkend Königs zu absoluten Herrschern verklärt, die sie in der partizipativen vielschichtigen Gesellschaft des Barocks nie waren. So sehen es nicht nur der Economist und die FAZ unser heutiges Europa als Spiegel des 17./18. Jahrhunderts. Nur so lässt sich Durchhardts neues Kapitel „Europäisierung als Kategorie der Frühneuzeitforschung“ erklären. Die Kommunikationsrevolution, marginalisierte Nationen, der Aufstieg neuer Bildungsschichten, europäischer Bildungsaustausch, kurz Integration und Interkulturalität werden dem 21. und 18. Jahrhundert ohne Scheu gleichermaßen zugesprochen. Ansätze hierzu finden sich in der „Europäistik“ von Wolfgang Schmale.
Aber man muss auch gar nicht in die große weite Welt des Economist fahren und die Historiker bemühen. Ganz stolz musste ich dieser Tage erfahren, dass meine Heimatstadt Paderborn von Arte für etwas ganz besonderes ausgezeichnet wurde: einen „ewigen Liebesbund“ mit Le Mans, „der als eines der ältesten internationalen Abkommen gilt und gleichzeitig die erste offizielle Verschwisterung zweier europäischer Städte begründete.“ Das hat mich motiviert, in Wikipedia die „Städtepartnerschaft Le Mans-Paderborn“ auf Deutsch zusammenzufassen. Soviel europäischer Lokalstolz muss sein.
Wer in den 80er Jahren in der zentralsüdostwestfälischen Provinz zum ersten Mal mit Europa zusammentraf, tat dies aus verschiedenen Gründen. Langweiliges – aber aus heutiger Sicht unglaublich europäisches – Fernsehen und eine beeindruckend starke Städtepartnerschaft mit Le Mans – gehegt und gepflegt von der viel gescholtenen aber transnationalen katholischen Kirche und in vielen schulischen- und zivilgesellschaftlichen Kreisen, vom Schützen- zum Kulturverein. Ich dachte immer, die europäischen Bekenntnisse in meiner Umwelt wären nur Knabenmorgenblütenträume gewesen. Aber es war wohl in der Tat etwas ganz besonderes. Wenn ein – zugegeben – Spartensender heute die guten alten Städtepartnerschaften ehrt, wird deutlich, was alles in den 90er Jahren verloren gegangen ist. Ein Vertreter des Städte- und Gemeindebundes brachte es einmal auf diesen Punkt: „Früher gab es in den Städten das Europa der Bewegungen, heute der Richtlinien.“ Organisationen wie der „Rat der Gemeinden und Regionen Europas“ (RGRE) erhielten in den letzten 20 Jahren immer weniger Beachtung. Knallharte Juristen des Wettbewerbsrechts ersetzten im Kampf gegen die sog. Brüsseler Regelungswut den interkulturellen Städtepartnerschaftsvermittler. Aber es gibt erste Ansätze einer erfreulichen Renaissance der „Gemeinden Europas“. Im Rahmen der Feierlichkeiten zu 50 Jahre Élysée-Vertrag bewirbt der RGRE gemeinsam mit ARTE die alte Städtepartnerschaftsidee neu – leider noch nicht auf Deutsch.
Es gibt im Internetzeitalter Hoffnung für ein neues „Spiel ohne Grenzen“: Vielleicht sollten wir in das geliebte Barockzeitalter und die Aufklärung eintauchen, um transnationale Ideen für die Zukunft Europas zu erhalten. Diesmal führen wir die Demokratie aber unblutig ein, ohne Revolution und über der Nation stehend. Schafft dies Europa nicht, dann werden die nationalstaatlichen Fehler am Ende von Barock und Aufklärung wiederholt.
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