EU-Richtlinien sind Tarnnetze

Im Deutschlandfunk konnte ich dieses Jahr ausführlich über meinen Job bei der Europäischen Bewegung sprechen: Dabei habe ich kein Problem, wenn mich Dirk Otto als einen hauptberuflichen Lobbyisten für die EU bezeichnet. Bin ich ja schließlich! „Brexit, Flüchtlingspolitik, Populismus – die EU steht zurzeit vor vielen Herausforderungen. Dabei geht es immer wieder darum, wie die Zukunft der Gemeinschaft aussehen kann. Eine Frage, auf die auch einige EU-Visionäre eine Antwort suchen. Und die sind trotz der aktuellen Krisen noch immer optimistisch.“

„Der 46-Jährige ist Generalsekretär des deutschen Ablegers der Europäischen Bewegung. Diese Dachorganisation vereint Gewerkschaften, Unternehmen, gemeinnützige Organisationen und Vereine, die sich für eine stärkere europäische Integration einsetzen wollen. Die Europäische Bewegung wird dabei vom Auswärtigen Amt gefördert und arbeitet eng mit Bundesregierung, Europäischer Kommission und EU-Parlament zusammen.

Hüttemann blickt nicht von Brüssel, sondern von Berlin aus auf das Geschehen in Europa. Von Krisenstimmung ist bei ihm nichts zu bemerken: „Ich habe noch nie so viele Menschen erlebt, die sich mit Europapolitik beschäftigen. Das ist einfach so, dass die Politik, die Innenpolitik, die jahrelang einfach nur nationale Themen gefahren ist, auf einmal europäische Themen fährt. Insofern ist das eigentlich sehr positiv gerade.“ Wenn Bernd Hüttemann von der EU spricht, benutzt er gern das Bild einer Familie. Auf der einen Seite die Eltern, die Nationalstaaten und auf der anderen Seite ihr gemeinsames Kind, die EU. „Sie ist nicht so stark, wie man geglaubt hatte, dass sie es sei. Aber man hat das Kind ja groß gezogen. Und die Eltern vergessen vielleicht manchmal, inwiefern das Kind Bedürfnisse hat, inwiefern man es alleine laufen lassen muss auch in bestimmten Bereichen und inwiefern man das Kind auch wieder zurückholen muss in bestimmten Bereichen. Aber letztendlich ist es eine Familie zwischen Nationalstaaten und der Europäischen Union. Und da funktioniert es gerade nicht.“

Kritik an den Nationalstaaten

Hüttemanns Kritik richtet sich an die Nationalstaaten: Sie müssten die Europäische Union ernst nehmen. Das Kind sei erwachsen. Dabei verweist er auf das Grundgesetz: In Artikel 23 ist die Entwicklung der EU als Staatsziel festgehalten: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit“, heißt es dort. Auch, wenn das bei weitem nicht immer einfach ist.

„Dennoch ist es aber für ein neues Konstrukt, also Kind, was gerade erwachsen wird, besonders schädlich, wenn mal was schiefgeht und etwas nicht funktioniert. Denn dann wird gesagt: Es ist ein Halbstarker. Und das kommt nicht gut an und macht dann aber auch die Institutionen selber nicht selbstsicherer und besser. Ich glaube, wir müssen mehr Verantwortung wieder haben für die Gemeinschaftsorgane und die Gemeinschaftsstrukturen der Europäischen Union. Und da haben die Nationalstaaten auch ihr Süppchen zu beigetragen, aber auch die Interessengruppen durchaus.“

Stellt euch den Marktschreiern! Raus aus den nationalen Klöstern!

Dieser Artikel erschien in den Europathemen des Deutschen Beamtenbundes im März 2017.

Da stehen wir nun vor einem riesigen Salat unterschiedlichster Meinungen, schwerverdaulicher Geschichten und dreister Lügen zwischen Krim, Brexit und nun auch noch dem Weißen Haus: Politik wird zu einer Kakophonie der Ängste. Dieser Artikel behandelt nicht die Ängste des „kleinen Mannes auf der Straße“ (es kann auch eine Frau sein!), sondern die Nachrichten und Meinungen, die ihn oder sie beeinflussen. Der öffentliche Diskurs geht in einer pluralistischen Gesellschaft zwischen Akteurinnen und Akteuren hin und her – auf vielfältigen Kanälen. 2017 ist das Reformationsjubiläum. Ob Martin Luther seine Thesen an die Wittenberger Schlosskirche buchstäblich angenagelt hat oder nicht: Sicher ist, dass Flugblätter und Druckerpressen eine enorme Rolle spielten in der Verbreitung reformatorischer Ideen. Manche sagen, die Reformation hätte ohne die Medienrevolution des Buchdrucks kaum eine Chance gehabt. Andere behaupten, die Rolle des Buchdrucks werde überschätzt, zumal doch die allermeisten Analphabeten waren. Es lohnt sich, die Zeitenwende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit mit der heutigen Kommunikationsrevolution zu vergleichen. Hangeln wir uns an diversen Medien entlang durch unterschiedliche Sphären. 

Wikipedia, die unbekannte Meinungsmacht

Vorweg die große Unbekannte der Sozialen Medien: Bei einer EBD-Veranstaltung zum Thema „Bildung 4.0“ habe ich als Moderator die Frage gestellt, wer Wikipedia nutzt: alle anwesenden Bildungsexperten passiv, viele sogar unzitiert als Quelle für ihre tägliche Arbeit. Aber nur drei Prozent der Anwesenden gaben an, je das größte Lexikon der Welt mit verbessert zu haben. Sozialwissenschaftler geben ihr Wissen offensichtlich ungern weiter. Trotzdem erreicht Wikipedia auch in der Europapolitik eine erstaunliche Qualität. Vor Jahren hat eine Gruppe von Trainees und Studierenden sämtliche europapolitischen Artikel in Wikipedia kategorisiert. Und Kategorisierung beeinflusst den Algorithmus von Google. Denn nur so weiß die Suchmaschine, dass ein MdEP zur EU und nicht zum Europarat gehört. Zum Lohn landet Wikipedia bei Google stets ganz vorn. Wirkmächtiges Wikipedia ohne offizielle Lehrmeinung: An deutschen Unis wird dieses „Making-of Wikipedia“ bis heute weder verstanden noch gelehrt. Sollen Novizen des 21. Jahrhunderts nicht erfahren, was oder wer eine Meinung außerhalb der Klostermauern bildet?

Twitter, zwischen PR und Netzwerken

Einmal fragte mich ein Lobbyist in Brüssel, der gerade aus der Spitze der deutschen Ständigen Vertretung bei der EU in die freie Wirtschaft gewechselt war, zu Twitter aus. Er war irritiert, dass außerhalb seiner bisherigen Erfahrungswelt so ungefiltert Wissen verbreitet werde. Viele Lobbyisten leben davon, Informationsmonopole aufzubrechen – ganz diskret. Und nun gibt es plötzlich Informationen transparent „für umme“. Und: Woher ich nur die Zeit hätte, all die Tweets zu lesen? Aber man liest Twitter nicht wie eine Sonntagszeitung. Im guten Sinne kann man Twitter mit einem gehaltvollen Gesprächsabend oder aber auch einer Hausparty mit spannenden Themen vergleichen, nur über den ganzen Tag in Dosen verteilt. Man folgt denen, die einem interessant erscheinen, um daraus zu lernen, über ideologische und sonstige Grenzen hinweg Zusammenhänge herzustellen, und um sie mit möglichst interessanten Tweets an sich selbst zu binden. Ja, eitel ist Twitter wie das echte Leben.

Die noch eitlere und „dunkle“ Seite von Twitter manifestiert sich gerade im US-Präsidenten. Mit Twitter erreicht Donald J. Trump ungefiltert den „kleinen Mann“ und verunsichert bewusst das Establishment, global. Umgekehrt brachte es jüngst der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt auf einen Aufmerksamkeitsrekord, als er auf Trump reagierte. Twitter ist kein Freund geschlossener Räume. Es stellt etablierte Medien und ihre Kunden in Frage, kann aber auch positiv gegensteuern oder gar Pressezensur umgehen. Despoten kämpfen gegen diese ungebremste Freiheit der Meinung, ob während der Arabellion oder seit Jahren in der Türkei.

Die Diplomatie fremdelte zunächst. Ende 2010 fragte ich den Planungschef des Auswärtigen Amtes, woher sein Haus „Intelligenz“ über Soziale Medien während der Arabellion bekäme. Seine Antwort war: „Wir vertrauen unseren Freunden im State Department.“ Die EBD war da schon seit einem Jahr mit dem Twitter-Account @NetzwerkEBD aktiv. Das Auswärtige Amt folgte 2011 schließlich doch einer Social Media-Strategie und gleich zu Beginn der EBD. Mit gut einer halben Million Follower hat das AA die EBD längst weit überflügelt, doch werden die Chancen einer echten „European Public Diplomacy“ noch zu wenig genutzt. Dabei wäre keine Berufsgruppe besser geschult, mit wenigen Worten das Richtige zu sagen, als Diplomaten. Obwohl weiter eine unbegründete Furcht vor Kontrollverlust zu herrschen scheint, gab es auch diesen Tweet zum Brexit: „Wir gehen jetzt in einen irischen Pub und betrinken uns. Ab morgen arbeiten wir dann wieder für ein besseres #Europa. Versprochen! #EUref“. Chapeau!

Facebook oder die elektronischen Filterblasen

Facebook ist für viele, die sich nicht mit dem offenen System Twitter anfreunden können, die erste Anlaufstelle. Wer sich als „Proeuropäer“ bei Facebook mit „seinen Freunden“ vernetzt, bekommt das positiv zu spüren. Über alle Grenzen hinweg bekomme ich ständig Anti-Brexit-Meinungen und proeuropäische Aufrufe wie neuerdings zu „Pulse of Europe“ oder von der Europa-Union. Dass es aber noch nationalistische, rechtsextreme Blasen gibt, hat jüngst der ZDF-Journalist Florian Neuhann gezeigt. Und diese Filterblasen interagieren kaum. Die Algorithmen dahinter werden politstrategisch genutzt. Erschreckend ist die These der totalen digitalen Manipulation hinter dem Wahlerfolg Trumps: Hier wird behauptet, dass es eine digitale „Bombe“ gebe. Aber auch schon abgeschwächte Darstellungen bieten Einblicke in die medialen Abgründe, etwa zum Brexit, wie der wohl beste EU-Blogger Jon Worth argumentiert.

Viele Blasen ergeben derweil einen Schaum

In Deutschland haben wir ein Luxusproblem. Die Qualität der öffentlichen und kommerziellen Medien ist so gut, dass sie sich erst sehr spät in die Social-Media-Welt eingemischt haben. Seit Jahren sammele ich in meiner Twitterliste „EU-Presse“ öffentlich alle europapolitischen Journalisten. Und die Posts dieser Liste lese ich wie eine Zeitung. Deutsche kommen erst jüngst hinzu und nur wenige gehen über bloße Eigen-PR hinaus. Der echte Diskurs ist bei klassischen Medienvertretern noch immer die Ausnahme. Die EBD sammelt übrigens deutschsprachige EU-Journalisten auf Twitter.

Deutsche Printpressespiegel sind enorm gehaltvoll, aber auch eine nationale Welt für sich. Das zeigt „Politico Europe“, 2015 vom US-amerikanischen Politico und der Springer AG gegründet, um die Übermacht der Londoner Financial Times, früher Leitmedium für EU-Beamte, zu brechen. Der deutschsprachige Onlinewecker „Morgen Europa“ von Florian Eder zeigt täglich zum Frühstück auf, dass Europapolitik keine von Korrespondenten kommentierte Außenpolitik, sondern gemeinsame Innenpolitik ist. Der europapolitische Diskurs in der doch provinziellen Bundeshauptstadt hat sich spürbar gebessert. Das hilft auch den klassischen Dialogangeboten wie den EBD De-Briefings.

Derweil tut sich in der deutschen Europawissenschaft herzlich wenig. Universitäten und Denkfabriken werden noch lange keinen Simon Hix von der Londoner LSE hervorbringen, der ganze Vorlesungen der Allgemeinheit zur Verfügung stellt und per Twitter interagiert. Phänomenal übrigens sein Lehrstück gleich nach dem Brexit-Votum.

Wie können Medien Breitenwirkung erzielen und gleichzeitig Qualität bewahren? Können „Monopolisten“ wie Diplomaten, Beamte, Korrespondenten und Wissenschaftler im guten demokratischen Sinne aktiv werden? Für die EBD ist für die demokratische Entwicklung Europas entscheidend, dass Medien gezielt für die europäische Integration genutzt werden. Grenzüberscheitende demokratische Kommunikation ist seit 1949 Satzungsauftrag. So arbeitet die Europäische Bewegung International (EMI) dezentral und pluralistisch daran, den Diskurs zu europäisieren. Für Kirchturmdenken sorgen schon die anderen.

Ach ja, und wer behauptet, dass der Buchdruck die Analphabeten damals nicht erreicht hatte, der hat ganz sicher die Marktschreier vergessen. Aber das ist eine andere Geschichte, die der Economist schön erzählt. Die heutigen Mönche sollten in der Verteidigung ihrer alten Welt vor allem nicht bloß angewidert Flugblätter (Tweets) verdammen, sondern sich selbst aktiv einbringen. Sonst werden die Klöster und ihr Qualitätswissen von Bauernstürmen hinweggefegt.

Bernd Hüttemann ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland e.V., schreibt hier aber vor allem als Twitterer @huettemann | @NetzwerkEBD.

Pilgern ausgerechnet von Berlin aus 2016/17

Das Kloster Jerichow im Rückblick Januar 2017, gleich geht es über die Elbe

Schritt für Schritt mit einem Ziel. Alles miteinander verbunden, aber doch auf fremdem Terrain. Irgendwann war ich neugierig, wie wohl all diese Schritte von Berlin bis an das westliche Ende Europas sich anfühlen, zehntausende Schritte bis an Spaniens Atlantikküste. Mein #finiseuropae begann ich 2016 improvisiert. Kleine Schritte, kleine Etappen auf einem Weg, der zu Beginn doch recht wenig mit dem bekannten Jakobsweg in Spanien zu tun hat. Mein Beginn war ein Aufbruch aus einer Großstadt. Berlin. [update in Coronazeiten 1. Juni 2020]

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Nebenwirkung Brexit: All the British glamour is gone

All the British glamour is gone. Westminster played the fake anti-EU card too much. With the result of the EU referendum it is now crystal clear: the game has gone too far.“ In meinem Meinungsartikel im Guardian kritisiere ich Brexit-Votum und den Verfall der politischen Kultur in Großbritannien, der ihm vorausgegangen war.

Read the article in English here

Der Beitrag in deutscher Übersetzung (der EBD):

Der Lack ist ab. Westminster hat sein falsches EU-Spiel zu lange gespielt. Durch das Ergebnis des Referendums ist nun klar: das Vereinigte Königreich ist zu weit gegangen!

Lange geahnt aber in Deutschland selten ausgesprochen: Die Krankendiagnose für das Vereinigte Königreich, das nur auf dem Papier EU-Mitglied war. Immer, wenn ich in Berlin mit Interessenträgern oder gar mit deutschen Diplomaten in London über britische Politik gesprochen habe, waren beide Gruppen stets von schillernden Reden fasziniert und gleichzeitig entnervt wegen der mangelnden Solidarität und der ewigen Extrawürste. Anders als in den 80er und 90er-Jahren kommen bei den Deutschen langweilige Reden wieder besser an. House of Cards macht uns Angst – so einfach ist es manchmal.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat durch zahlreiche Schüsse gegen die EU so viel professionellen „Spin“ erzeugt, dass tatsächlich eine Mehrzahl der Wähler am 23. Juni Brüssel den Rücken zugekehrt hat. Was aber im dezentralen Deutschland – in dem die Bundeshauptstadt keine große Rolle in der Politik spielt – sehr klar wahrgenommen wurde, war der Groll der im Abseits zurückgelassenen Menschen im Norden Englands. Ihre Wut gegen Brüssel ist wahrscheinlich viel mehr das Artikulieren von Unmut gegenüber London. Natürlich ist es einfacher, die EU für jedes Problem zu beschuldigen. Ich bin gespannt, wen das Vereinigte Königreich in Zukunft verantwortlich macht, wenn etwas falsch läuft.

All jene, die es toll fanden, über die britische Gelassenheit zu berichten und den Glamour, den der Britpop, die Royals oder James Bond versprühten, sind nun von der politischen (Un-) Kultur im Vereinigten Königreich geschockt. Seit dem Referendum kann das Land nicht mehr länger als ruhig und demokratisch bezeichnet werden. Das ist schrecklich und kein Modell für deutsche Politik. Mit dem tiefen Fall der politischen Kultur, inklusive dem entsetzlichen Tod von Jo Cox, haben die Schotten und deren demokratisches System von den Deutschen unglaublichen Zuspruch erhalten. Sicher ist jetzt, dass die Londoner City inwzischen einen deutlich schlechteren Ruf hat als Edinburgh oder Brüssel.

Und warum? Vor langer Zeit hat sich die britische politische Kultur von dem abgewandt, woraus die deutsche politische Kultur (mit allen Kehrseiten) gemacht ist: Kompromisse, Checks and Balances, Selbstbestimmung der Minderheiten, Pluralismus, Medien, die nicht nur in der Hauptstadt präsent sind oder von internationalen Mogulen betrieben werden; Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, starke Gewerkschaften, starker Parlamentarismus, Offenheit für Flüchtlinge. 79 Prozent aller Deutschen würden nach aktuellen Umfragen für den Verbleib in der EU stimmen. Warum? Weil zu viele Interessenvertreter den Wunsch nach einer funktionierenden europäischen Integration haben. Demokratie, Pluralismus und Europäische Integration ist im Grundgesetz von 1949 festgelegt – und das verdanken wir dem Vereinigten Königreich. Duncan Sandys hat zwei Wochen später sogar die Europäische Bewegung Deutschland mitgegründet – er war Winston Churchils Schwiegersohn.

Wenn Brexit-Befürworter nun für ähnliche „Out“-Bewegungen auf dem europäischen Festland werben – Vorsicht! Ein Großteil der Gesellschaften auf dem Festland ist nicht so schlicht gestrickt, wie die Westminster-Welt sich das vorstellen mag. Je komplizierter, pluralistischer und kooporatistischer ein Land ist, umso mehr Antworten kann es sowohl den Minderheiten als auch den Mehrheiten geben. Weniger Demokratie heißt mehr Populismus.

Leider spielt David Cameron weiter mit der Zukunft der Europäischen Staaten. Im Gegensatz zu den Ankündigungen während der Kampagne, bittet er nicht um einen sofortigen Austritt aus der EU nach Paragraph 50 des EU-Vertrags sondern verzögert die Sache. Er gibt abermals Verantwortlichkeit ab, während das Brexit-Lager ein einfaches, ungeordnetes Out forciert. Ungeachtet dessen, welchen Schaden das Geschacher dem Rest von Europa zufügen wird.

Immerhin muss die EU jetzt keine Rücksicht mehr auf Westminster nehmen. Dieses Mal heißt es: „Raus ist raus.“ Selbst wenn Westminster mit dem Austritt auf Zeit spielen würde, Europa wird harte Kante zeigen. Die EU hat jetzt die Möglichkeit, echte Reformen ohne englische Hintertüren umsetzen. Wir können nur hoffen, dass die jungen, heranwachsenden Engländer den Schotten und den Nordiren bald darin folgen, ein neues politisches System mit und für eine europäischen Zukunft aufzubauen. Bis dahin sind Westminster und die City of London außen vor. Diesmal gilt es für die EU: Keep calm and carry on.

Vor 75 Jahren überfiel mein Opa mit Barbarossa die Sowjetunion

Am 22. Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich und seine Verbündeten mit 3,6 Mio. Soldaten die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“ kam für den zuvor mit Hitler „verbündeten“ Stalin völlig überraschend. Vor einigen Jahren habe ich die Teilnahme meines Großvaters am Überfall zusammengefasst. Heute am 22. Juni – nach genau 75 Jahren – habe ich mich an diesen dunklen Teil meiner Familiengeschichte erinnert. Es ist die Geschichte eines der vielen einfachen Soldaten, die Täter, Teil und/oder Opfer des Horrors wurden. Hier ein Auszug:

Mit der Erkennungsmarke „1286 4. M.G.Ers.Kp. 17“ wurde der 28-jährige Gustav Hüttemann am 12. Dezember 1940 Mitglied des 4. Maschinengewehr Infanterie-Ersatz-Bataillons 17 der deutschen Wehrmacht. Sie gehörte zur 131. Infanterie-Division des Heeres, die im Oktober 1940 auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne/Celle (heute Landkreis Lüchow-Dannenberg) gebildet wurde.[1] Die Rekruten, seit September kontinuierlich herangeführt, wurden durch Marsch- und Feldübungen zu einer Truppe „zusammengeschweißt“[2]. Im Februar 1941 ging es Richtung Osten. Die gesamte Division und damit das Infanterieregiment 434 wurde per Eisenbahn in das besetzte Polen („Generalgouvernement“) verlegt. Die Strecke des Transportes ist genau dokumentiert und lief von Bergen über Braunschweig, Magdeburg, Breslau, Tschenstochau, Lodz nach Warschau. Die 131. Infanteriedivision wurde der 4. Armee (Heeresgruppe B) unterstellt und lag im Warschauer Vorort Miedzeszyn. Die Soldaten hatten noch keine Waffen bei sich. Erst nach und nach wurde die Division mit Geräten, Waffen und Fahrzeugen versorgt.[3] Am 17. April 1941 begann der Vormarsch zu Fuß Richtung sowjetische Grenze, über Siedlce in Richtung Konstantinow – Brest Litowsk. Vom 22. April bis 28. April 1941 lagerte Gustav Heinrich im Raum Zaczok. Anschließend verbrachte er dann wohl, wie seine ganze Einheit, im Raum Konstantinow mehrere Wochen mit Holzfällen, um im Mai/Juni in selbst errichteten Holzhütten zu leben. Dann wurde die Division aus ihren „Waldquartieren“ an die sowjetische Grenze am Fluss Bug nordwestlich von Brest-Litowsk (heute Weißrussland) verlegt. Die 131. Division lag in der Gegend von Bubel-Łukowiska.[4] Unter den Soldaten hielt sich das Gerücht, „die deutschen Truppen erhielten freien Durchmarsch durch russisches Gebiet, um so in die Türkei zu gelangen“[5].

Am 22. Juni 1941 überfiel das Deutsche Reich und seine Verbündeten mit 3,6 Mio. Soldaten die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“ kam für den zuvor mit Hitler „verbündeten“ Stalin völlig überraschend.

Auch die russischen Einheiten, die auf dem nördlichen Ufer des Bug, östlich von Niemirów (heute Polen) lagen, waren auf den Überfall nicht vorbereitet. Unbemerkt hatten sich die Wehrmachtssoldaten der 131. Division am südlichen Ufer des Bug-Fluss eingegraben, sie durften nicht rauchen und mussten äußerste Ruhe bewahren. Am 22. Juni 1941 um 3:15 Uhr begann die Artillerie von Brest-Litowsk kommend ihr Feuer auf die unvorbereiteten russischen Soldaten. Nun begann auch für Heinrich Hüttemann der mörderische Krieg. Schlauchbootkommandos überwältigten einen russischen Beobachtungsposten in einer gegenüberliegenden Windmühle und rückten vor. Im Laufe des Tages wurde eine Brücke gebaut, um die schweren Waffen über den Bug zu bringen. Die Division überrannte ohne nennenswerte Verluste die schwachen russischen Stellungen. Zunächst ging es über Krynki nach Panki, das man am Abend erreichte und zur Nachtverteidigung hergerichtet wurde. Um 4:00 Uhr wurde der Angriff fortgesetzt. Swietze wurde ohne große Verluste eingenommen. Die Regimenter der Division folgten dann der Vorhut geschlossen Richtung Osten. In Otsynowo erlaubte man sich eine längere Rast und erreichte zur Nacht ohne Gefechte Kruhel. Am 24. Juni ging es um 4:00 Uhr weiter Richtung Kamieniec-Litewski. Erste sowjettische Bomber-Angriffe setzen ein, verfehlten aber die Kolonnen. Die nächste Nachtruhe konnte um 23:00 Uhr in Brody eingenommen werden. Am folgenden Tag wiederholte sich der Vormarsch ohne Feindberührung. Wieder verfehlten die Bomber ihr Ziel, so dass Szereszow erreicht werden konnte. Die nächste Etappe war der Weg von Kozly nach Truchonowisze (19.00 Uhr).

[1] Vgl. http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Infanteriedivisionen/131ID.htm „Aufgestellt am 17. Oktober 1940 als Regiment der 11. Welle auf dem Truppenübungsplatz Bergen aus Teilen der Infanterie-Regimenter 490 und 17 und der 131. Infanterie-Division unterstellt. Am 10. Mai 1942 wurde das III. Bataillon aufgelöst und am 15. Oktober 1942 wurde das Regiment in  Grenadier-Regiment 434  umbenannt.“ http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Infanterieregimenter/IR434.htm siehe auch http://www.russlandfeldzug.de/dieostfront2.html

[2] Blankenhagen S. 7

[3] Darunter „sehr viele Beute-Kfz. Aus dem Westfeldzug“. Blankenhagen S. 7.

[4] Genau an der Stelle, wo heute die weißrussisch-polnische Grenze den Bug nach Norden hin verlässt.

[5] Blankenhagen S. 13

Was bleibt von Schengen übrig? – mein Beitrag bei l’Observateur

Was bleibt von Schengen übrig? Das ist eine kritische Frage, mit der sich die Journalistin Sarah Halifa-Legrand in ihrem Artikel im französischen Magazin l’Observateur auseinandergesetzt hat. Im Zuge ihrer Recherchen in verschiedenen europäischen Ländern besuchte sie auch die Europäische Bewegung Deutschland und sprach mit mir.  Hier eine Zusammenfassung vom Netzwerk EBD:

Was bleibt von Schengen übrig? Deutschland, als Tempelwärter der Reisefreiheit

Erneute Kontrollen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Zäune, gespaltene Völker… Die Flüchtlingskrise könnte ein Ende einer Welt ohne Grenzen bringen. Eine Reise in ein desintegriertes Europa. Fünfte Etappe: Deutschland.

Warum ist Angela Merkel die Einzige, die für eine Aufnahme von Flüchtlinge plädiert? „Frau Merkel hat den Fall der Mauer in Erinnerung, und will keinen neuen eisernen Vorhang etablieren“, sagt der deutschen Botschafter in Paris Nikolaus Meyer-Landrut. Bemuttert Frau Merkel Europa?

„Es ist meine Pflicht einen gemeinsamen Weg für dieses Europa zu finden“. Mit diesen, für Sie ungewöhnlichen Satz, hat Frau Merkel das Publikum überrascht, jedoch hat Sie dabei überzeugend gewirkt, meint der Spiegel-Journalist Ralf Neukirch. „Das ist keine Romantik, sondern Pragmatik. Was Sie will ist ein funktionierendes Europa, denn dieses funktioniert eben nicht“, sagt Bernd Hüttemann.

Merkel ist das einzige europäische Staatsoberhaupt mit einer mittel- und langfristigen Vision, sagt Robert Goebbels, der ehemalige luxemburgische Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten. Sie ist die Einzige, die für eine Aufteilung der Flüchtlinge, für einen Abkommen mit der Türkei und für das Schengen-Abkommen plädiert.

Die Mitgliedsstaaten kritisieren Merkels Position, denn Sie habe mit ihrem „Wir schaffen das“ ein Willkommenssignal für die Flüchtlinge geschaffen. „Europa kann nicht mehr alle Flüchtlinge aufnehmen“, sagt der französische Premierminister Manuel Valls.

Den Europäern sind Merkels einseitige Entscheidungen bezüglich der Suspendierung von Dublin III sauer aufgestoßen. Mit einem demographischen Defizit und einer starken Wirtschaft sei Deutschland das einzige Land, das von billigeren, externen Arbeitskräften profitieren würde, setzt Marc Pierini, französischer Botschafter a.D. und Forscher bei Carnegie Europe entgegen. Frankreich dagegen hätte von der Aufnahme von Flüchtlingen keinen Vorteil.

Die Kanzlerin ist nicht nur innerhalb Europas, sondern auch innerhalb ihrer Partei, der CDU, immer mehr isoliert . „Man muss ein Ende zu frommen Wünsche und Illusionen setzen. Ich verstehe die Standpunkte von Österreich und den Visegrad Staaten, das kann auch eine Option für Deutschland sein. Dadurch entsteht die Frage: Ist dies das Ende von Schengen? Wie kann man ein europäisches Projekt erhalten, wenn jeder Staat seine Grenzen zumacht?“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Lengsfeld.

Unter Druck hat die Kanzlerin Grenzkontrollen wieder eingeführt und hat zugestimmt Wirtschaftsmigranten zurückzuführen. Wie in Schweden und in Österreich ist auch in Deutschland die Stimmung gekippt, was auch aus dem unerwarteten Erfolg von rechten Parteien in den Ländern deutlich wird. Umfragen ergeben das ca. 43% der Deutschen wieder Grenzkontrollen einführen wollen.

Inzwischen hofft Bernd Hüttemann, dass die Deutschen an der Idee von Europa ohne Grenzen noch weiter glauben werden. Auch die Deutsche Bundeswehrverband e.V. (DBwV) mahnt die Wichtigkeit eines Europas ohne Grenzen für die europäische Stabilität und den Frieden an.

„Schengen ist elementar für Deutschland. Die Grenzen schließen ist keine Option für das 21. Jahrhundert“, bekräftigt Angela Merkel.

Gleichzeitig stehe Frau Merkel vor einem Paradox. „Sie kann weiter die Schließung der Grenzen im Balkan kritisieren, jedoch hätte Sie auch ihre eigenen Grenzen schließen müssen wenn die Zahl der Migranten gestiegen wäre“, erläutert Ralf Neukirch. „Die Schließung der Grenzen zwischen Mazedonien und Griechenland wird Schengen retten. Niemand kann das sagen, aber es ist ein Fakt“, sagt Bernd Hüttemann. Nachdem Österreich und der Balkan die Grenzen geschlossen haben, ist die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland deutlich gesunken. Griechenland erstickt, aber Deutschland kann erneut aufatmen.

Serbien hat an Reputation gewonnen – mein Interview bei Tanjug

In einem Interview mit der serbischen Nachrichtenagentur Tanjug betonte ich den langen Reformprozess, den ein EU-Beitritt voraussetze. Aber durch die Flüchtlingskrise habe Serbien sehr an Reputation gewonnen, insbesondere in Deutschland. Die konstruktive serbische Rolle zu Zeiten der Flüchtlingskrise habe sehr positiven Einfluss auf die Wahrnehmung des Beitrittskandidaten.

Auf die sehr serbische Frage, in welchem Maß die russischen Interessen im Beitrittsprozess Serbiens berücksichtigt werden sollten, bat ich darum, die Themen nicht zu vermischen. Serbien sei auf einem klaren europäischen Weg. Die Agenda der EU müsse nicht im erhöhten Maße auf die Interessen anderer Länder Rücksicht nehmen.

Das Interview bei Tanjug auf Englisch

Online-Bericht beim Kanal B92

There is only a European solution – BBC-Interview on refugee crisis

We need to see the bigger picture of a catastrophic situation. I recently gave some views on why a global refugee crisis has to be answered by Europe and not just by nation states. Ahead of the EU-Summit in Brussel I was interviewed by BBC World Service – this is my full interview on behalf of European Movement Germany. I gave credits to Relief & Reconciliation for Syria which I could visit last year in Lebanon. Also mentioned a great study of EM Germany’s member organisation Bertelsmann Stiftung Berlin, which shows that EU citizens are more open to help refugees than their governments.

The full BBC Interview:

Nur europäisch lösbar – mein BBC-Interview zur Flüchtlingskrise

Die Flüchtlingskrise ist nur europäisch lösbar. Da hilft es auch nicht, dass die meisten Nationalstaaten sich nur mit Grenzschließungen behelfen. Wie es weiter gehen wird und was zu unseren Innengrenzen passieren könnte bleibt einen Sprung ins Ungewisse, aber „protection of the Schengen borders outside Europe is the most important thing, and not to build up fences inside Europe“. Das wahre Problem ist die Katastrophe für die Menschen in Syrien. Grenzzäune werden die Menschen nicht aufhalten. Sie werden ihren Weg nach Norden finden. Dies wurde schon bei meinem Vorkrisenbesuch in Flüchtlingslagern im Libanon deutlich.

Das Interview im vollen Wortlaut:

Intervening in domestic affairs? This must be a European standard

Taking part in the Pristina  panel on “The Future of the Euro-Atlantic Community in Uncertain Times: Where Are We Headed?” I made clear, that the Copenhagen EU accession criteria (democratic governance, human rights, functioning market economy) must be a model of conduct for all the existing EU members. Pluralistic and democratic competition on all policy levels is therefore a precondition for a united Europe.

Hüttemann: “Intervening in domestic affairs? This must be a European standard”