Mind the gap. Deutschland und Britannien trennt Demokratie in der EU

Alternative für Deutschland (AfD), die Partei, die bei der Europawahl 7% der Stimmen aus Deutschland erhielt und nun mit 7 Sitzen im Europäischen Parlament vertreten ist, hat sich den Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) angeschlossen. Wie konnte es dazu kommen? Hatte nicht der Premierminister Großbritanniens der deutschen Kanzlerin versprochen, ihren konservativen Konkurrenten nicht zu stärken? Die Mehrheit der Fraktionsmitglieder der EKR hatte gegen die Empfehlung des Parteivorsitzenden der britischen konservativen Partei, David Cameron, gestimmt. Wie sich nun herausstellt, befolgten selbst Mitglieder seiner eigenen Partei seine Anweisung nicht.

Was bedeutet das für Deutschland? Zunächst einmal nicht viel, so scheint es. Die deutschen Medien berichteten vage über die neuvereinigten Kräfte der europaskeptischen Parteien. Die deutschen Hauptnachrichten (Tagesschau/ heute) ließen diese Entwicklung ganz aus. Kein Vergleich zu den großen Schlagzeilen und der öffentlichen Empörung, die Camerons Widerstand und Merkels kurzes Zögern gegenüber Jean-Claude Junckers Kandidatur zum Kommissionspräsidenten auslösten. Das stellte für die deutschen Medien das eigentliche berichtenswerte Ereignis dar. Die deutschen Medien, Parteien und Interessenverbände überschneiden sich in ihrer Unterstützung des „Spitzenkandidaten“. 60% der Deutschen unterstützen die Idee, dass das Europäische Parlament den neuen Kommissionspräsidenten ernennen sollte. Nur 26% der Deutschen sind der Meinung, dass der Präsident von Staats- und Regierungschefs bestimmt werden sollte (Infratest-DIMAP/ARD). Großbritanniens politische Kommunikations- und Medienstrategie hat die pluralistische deutsche Gesellschaft und das demokratische Moment völlig unterschätzt.

Vor einigen Jahren hatte ich eine längere Unterhaltung mit einem Journalisten, der für den britischen Sender Channel4 arbeitete. Man hatte ihn in die deutsche Provinz entsandt, um dort Euroskeptiker und ablehnende Haltungen gegenüber Griechenland ausfindig zu machen. Nach vielen Versuchen, Mitglieder des „Männerchors“ zu interviewen, ein äußerst konservativer ländlicher Mikrokosmos, gab er auf und musste anerkennen, dass deutscher Pluralismus auch pro-europäische Haltungen hervorbringt. Ich verglich dies mit der Schwarmintelligenz von Vögeln und Fischen: die deutsche Gesellschaft ist nicht monolithisch, sodass es für die Medien schwieriger wird, die öffentliche Meinung zu bestimmen, als dies in Großbritannien der Fall sein mag. Die kollektive Intelligenz und Unabhängigkeit der Deutschen hält sie auch ohne  Leitlinien zusammen.

Vor einigen Monaten traf ich Vertreter der  britischen Regierung in London, denen ich erklärte, dass kleine und mittelständische deutsche Unternehmen, Sparkassen, Gewerkschaften und selbst die CDU als regierende Partei keine direkten Partner in Großbritannien mehr haben. Großbritannien hatte sich zu sehr auf Westminster fixiert und darüber Deutschlands politische Vielfalt aus dem Blick verloren. Das fehlende Verständnis ist offensichtlich. Die Deutschen sind wütend über das Herumschnüffeln der NSA und ihres britischen Partners, der Government Communication Headquarters (GCHQ). Doch es scheint, als hätte die GCHQ die falschen Informationen gesammelt und es so versäumt, die Stimmung in Deutschland richtig einzuschätzen. Hat niemand der Downing Street Bescheid gesagt? Seit der Finanzkrise sind die Deutschen weniger über die Brüsseler Bürokratie verärgert als vielmehr auf der Hut vor London. Die Europawahlen haben Deutschlands klares Bekenntnis zur Weiterentwicklung der europäischen Demokratie und Solidarität bestätigt. Das Gefühl drängt sich auf, dass Großbritannien dieses Engagement nicht teilt. Doch zurück zur AfD: diese neue euroskeptische Partei hat bei der Europawahl 2 Millionen Stimmen erhalten, genau das gleiche Ergebnis wie bei den Bundestagswahlen 2013. Auf Grund der geringeren Wahlbeteiligung bei der Europawahl fällt das prozentuale Ergebnis der AfD hier vergleichsweise höher aus. So muss die CDU sich nicht allzu große Sorgen um ihren Möchtegern-Konkurrenten machen: Größe, Reiz und Einfluss der AfD bleiben gering.

Gleichzeitig sind die Deutschen große Koalitionen gewöhnt, nicht nur auf Bundes- oder Länderebene. Die Kooperation zwischen der CDU/CSU und der SPD hat sich bemerkenswert reibungslos entwickelt, vor allem in der Europapolitik. Die Menschen scheinen zu verstehen, dass große Koalitionen zwischen den tragenden Parteien in der Lage sein müssen, in Krisenzeiten eine Führungsrolle einzunehmen und echte Lösungen anzubieten. So betrachtet scheint die neue euroskeptische Koalition aus AfD und Tories nicht weiter ins Gewicht zu fallen. Natürlich mögen die meisten Deutschen die britische Kultur und Rhetorik. Doch reicht das noch aus, wenn gleichzeitig viele eine Abneigung gegen Westminsters Haltung in Bezug auf  Finanzmarktpolitik, Spionage, der Freizügigkeit von Personen in der EU und Deutschlands Demokratieverständnis entwickeln? Merkel wird also die Ruhe bewahren und weitermachen, egal ob nun die Tories einen Partner in ihrer konkurrierenden Randpartei, der AfD, gefunden haben.

Die europäischen Sozialdemokraten und Christdemokraten wird das näher zusammenbringen. Juncker wird sowohl im Europäischen Parlament als auch im Europäischen Rat eine große Mehrheit für sich vereinen können. Die nordischen Länder sowie zentral- und osteuropäische Staaten werden nun stärker auf Deutschland als auf Großbritannien zählen. Deutschland hat den zweiten Weltkrieg weit genug hinter sich gelassen und die osteuropäischen Länder sind mehr als verärgert über Großbritanniens feindselige Einstellung gegenüber Einwanderern. Doch wie könnte Großbritanniens Zukunft in der EU aussehen? Vermutlich werden dem Land bescheidene, aber unmittelbare Zugeständnisse gemacht, um es in der Europäischen Union zu halten. Großbritannien wird bewundert, weil es pragmatisch ist. Es liegt nun an Großbritannien, sich die Vorzüge der EU zu Nutze zu machen. Und, liebe Boulevardpresse, hört auf, den Krieg zu erwähnen. Die Deutschen würden laut lachen.

Die Europäische Bewegung Deutschland ist 65 Jahre alt. Sie wurde am 13. Juni 1949 unter anderem von Duncan Sandys, Winston Churchills Schwiegersohn, gegründet.

Am 25. Juni wird der britische Europaminister bei der EBD-Exklusiv sprechen.

Published at the EuroBlog byEuropean Movement UK 13/06/2014

No Angst: Europakonsensschland erklären!

Natürlich halten die Kurse nach der Bundestagswahl. Die Eurozone lebt vom stabilen Deutschland. CNBC fragte mich gleich nach der Wahl, welche Auswirkungen die Wahl denn auf die Eurozone habe. Keine, das heißt eine stabilisierende. Denn wenn der Wahlkampf schon langweilig war und sich die meisten Parteien in der Frage des Krisenmanagements kaum unterschieden, dann kann auch das Wahlergebnis für die Eurozone nicht besonders spannend sein. Gottseidank!

Die CNBC-Frage nach der AfD kann glücklicherweise auch nicht sonderlich provozieren. Kleinstparteien mögen zwar in Deutschland als Mehrheitsbeschaffer eine wichtige Rolle spielen, die Bedeutung von Englands UKIP kann AfD aber kaum erhalten. Im Vereinigten Königreich kann ein Wahlkreis mit 20% der Stimmen zu 100% gewonnen werden. In den meisten der 650 Wahlkreise können selbst geringe Verluste einer einfachen Mehrheit einen 100% Machtverlust bedeuten. Das Mehrheitswahlrecht hat so längst seinen stabilisierenden Charakter eingebüßt, wie Jon Worth richtigerweise in einem Beitrag angemerkt hat.  Ein englisches Ätschibätsch nach einer deutschen UKIP im AfD-Schafspelz (The Telegraph: „Merkel’s UKIP„) verhallt ungehört im deutschen Konsenstag. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Anders als der Bundesrepublik droht dem Königreich ein Flickenteppich und eine immer weniger repräsentative Demokratie.

Das stabile Deutschland ist mit Föderalismus, Sozialpartnern, starken Kommunen für Medien schrecklich unübersichtlich und nicht nur für den ausländischen Betrachter im Ergebnis langweilig. Egal welche Koalition nun gebildet wird, die Opposition ist entweder ganz klein oder über den Bundesrat eng an der Regierung zu beteiligen. Europapolitisch gibt es dann erst recht keinen Zündstoff. Leider führt dies ungewollt zu negativen Kollateralschäden für den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern und den Interessengruppen. Europas Relevanz verliert sich im deutschen Niemandsland.

Zugegeben: für das konsensorientierte Deutschland steht auch meine Arbeitgeberin, die Europäische Bewegung Deutschland. 1949 – ausgerechnet von einem konservativen Briten mitgegründet – gehört sie zum bundesrepublikanischen Erstinventar. Fast alle Parteien sind drin, die Sozialpartner eh und über 200 Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft auch. Ohne das so erfolgreiche Konsensschland zu verlassen, braucht die künftige Bundesregierung Mut zu mehr Kommunikation und Wettstreit der Ideen. Aber gleichzeitig braucht man auch eine neue Konsenskultur in Europa: „Wenn Europa nicht in der weltpolitischen Bedeutungslosigkeit versinken will, brauchen wir eine neu verhandelte, eine klug gestaltete Union, die alle mittragen.“ (Rainer Wend)