EU-Lobbyismus in Coronazeiten – Mein Jahrbuchbeitrag 2020

2020 wurde es unübersichtlich in der europäischen Lobbywelt. Selbstverständlich spielte auch hier die Pandemie eine große Rolle. Ohne Frage wurde auch die äußere Einflussnahme auf die europäische Gesetzgebung von der Jahrhundertaufgabe herausgefordert. Die nur langsam anlaufenden Initiativen der neuen Von-der-Leyen-Kommission wurden von Corona überschattet und endeten mit einem Megahaushalt ungekannten Ausmaßes während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, mit allen Konsequenzen für alle Arten von Gruppen mit Gemeinwohl- und/oder Eigeninteressen. Zudem ist ein Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich in Schnellverfahren abgeschlossen worden, fast ohne Einwirkungsmöglichkeiten der Parlamente und noch weniger von Lobbygruppen. In diesen Tagen erschien mein Artikel im „Jahrbuch der europäischen Integration“ auf Papier, diesmal unter dem neuen Titel „Interessenvertretung“. Redaktionsschluss war leider schon im Sommer 2020.

 

Stellt euch den Marktschreiern! Raus aus den nationalen Klöstern!

Dieser Artikel erschien in den Europathemen des Deutschen Beamtenbundes im März 2017.

Da stehen wir nun vor einem riesigen Salat unterschiedlichster Meinungen, schwerverdaulicher Geschichten und dreister Lügen zwischen Krim, Brexit und nun auch noch dem Weißen Haus: Politik wird zu einer Kakophonie der Ängste. Dieser Artikel behandelt nicht die Ängste des „kleinen Mannes auf der Straße“ (es kann auch eine Frau sein!), sondern die Nachrichten und Meinungen, die ihn oder sie beeinflussen. Der öffentliche Diskurs geht in einer pluralistischen Gesellschaft zwischen Akteurinnen und Akteuren hin und her – auf vielfältigen Kanälen. 2017 ist das Reformationsjubiläum. Ob Martin Luther seine Thesen an die Wittenberger Schlosskirche buchstäblich angenagelt hat oder nicht: Sicher ist, dass Flugblätter und Druckerpressen eine enorme Rolle spielten in der Verbreitung reformatorischer Ideen. Manche sagen, die Reformation hätte ohne die Medienrevolution des Buchdrucks kaum eine Chance gehabt. Andere behaupten, die Rolle des Buchdrucks werde überschätzt, zumal doch die allermeisten Analphabeten waren. Es lohnt sich, die Zeitenwende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit mit der heutigen Kommunikationsrevolution zu vergleichen. Hangeln wir uns an diversen Medien entlang durch unterschiedliche Sphären. 

Wikipedia, die unbekannte Meinungsmacht

Vorweg die große Unbekannte der Sozialen Medien: Bei einer EBD-Veranstaltung zum Thema „Bildung 4.0“ habe ich als Moderator die Frage gestellt, wer Wikipedia nutzt: alle anwesenden Bildungsexperten passiv, viele sogar unzitiert als Quelle für ihre tägliche Arbeit. Aber nur drei Prozent der Anwesenden gaben an, je das größte Lexikon der Welt mit verbessert zu haben. Sozialwissenschaftler geben ihr Wissen offensichtlich ungern weiter. Trotzdem erreicht Wikipedia auch in der Europapolitik eine erstaunliche Qualität. Vor Jahren hat eine Gruppe von Trainees und Studierenden sämtliche europapolitischen Artikel in Wikipedia kategorisiert. Und Kategorisierung beeinflusst den Algorithmus von Google. Denn nur so weiß die Suchmaschine, dass ein MdEP zur EU und nicht zum Europarat gehört. Zum Lohn landet Wikipedia bei Google stets ganz vorn. Wirkmächtiges Wikipedia ohne offizielle Lehrmeinung: An deutschen Unis wird dieses „Making-of Wikipedia“ bis heute weder verstanden noch gelehrt. Sollen Novizen des 21. Jahrhunderts nicht erfahren, was oder wer eine Meinung außerhalb der Klostermauern bildet?

Twitter, zwischen PR und Netzwerken

Einmal fragte mich ein Lobbyist in Brüssel, der gerade aus der Spitze der deutschen Ständigen Vertretung bei der EU in die freie Wirtschaft gewechselt war, zu Twitter aus. Er war irritiert, dass außerhalb seiner bisherigen Erfahrungswelt so ungefiltert Wissen verbreitet werde. Viele Lobbyisten leben davon, Informationsmonopole aufzubrechen – ganz diskret. Und nun gibt es plötzlich Informationen transparent „für umme“. Und: Woher ich nur die Zeit hätte, all die Tweets zu lesen? Aber man liest Twitter nicht wie eine Sonntagszeitung. Im guten Sinne kann man Twitter mit einem gehaltvollen Gesprächsabend oder aber auch einer Hausparty mit spannenden Themen vergleichen, nur über den ganzen Tag in Dosen verteilt. Man folgt denen, die einem interessant erscheinen, um daraus zu lernen, über ideologische und sonstige Grenzen hinweg Zusammenhänge herzustellen, und um sie mit möglichst interessanten Tweets an sich selbst zu binden. Ja, eitel ist Twitter wie das echte Leben.

Die noch eitlere und „dunkle“ Seite von Twitter manifestiert sich gerade im US-Präsidenten. Mit Twitter erreicht Donald J. Trump ungefiltert den „kleinen Mann“ und verunsichert bewusst das Establishment, global. Umgekehrt brachte es jüngst der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt auf einen Aufmerksamkeitsrekord, als er auf Trump reagierte. Twitter ist kein Freund geschlossener Räume. Es stellt etablierte Medien und ihre Kunden in Frage, kann aber auch positiv gegensteuern oder gar Pressezensur umgehen. Despoten kämpfen gegen diese ungebremste Freiheit der Meinung, ob während der Arabellion oder seit Jahren in der Türkei.

Die Diplomatie fremdelte zunächst. Ende 2010 fragte ich den Planungschef des Auswärtigen Amtes, woher sein Haus „Intelligenz“ über Soziale Medien während der Arabellion bekäme. Seine Antwort war: „Wir vertrauen unseren Freunden im State Department.“ Die EBD war da schon seit einem Jahr mit dem Twitter-Account @NetzwerkEBD aktiv. Das Auswärtige Amt folgte 2011 schließlich doch einer Social Media-Strategie und gleich zu Beginn der EBD. Mit gut einer halben Million Follower hat das AA die EBD längst weit überflügelt, doch werden die Chancen einer echten „European Public Diplomacy“ noch zu wenig genutzt. Dabei wäre keine Berufsgruppe besser geschult, mit wenigen Worten das Richtige zu sagen, als Diplomaten. Obwohl weiter eine unbegründete Furcht vor Kontrollverlust zu herrschen scheint, gab es auch diesen Tweet zum Brexit: „Wir gehen jetzt in einen irischen Pub und betrinken uns. Ab morgen arbeiten wir dann wieder für ein besseres #Europa. Versprochen! #EUref“. Chapeau!

Facebook oder die elektronischen Filterblasen

Facebook ist für viele, die sich nicht mit dem offenen System Twitter anfreunden können, die erste Anlaufstelle. Wer sich als „Proeuropäer“ bei Facebook mit „seinen Freunden“ vernetzt, bekommt das positiv zu spüren. Über alle Grenzen hinweg bekomme ich ständig Anti-Brexit-Meinungen und proeuropäische Aufrufe wie neuerdings zu „Pulse of Europe“ oder von der Europa-Union. Dass es aber noch nationalistische, rechtsextreme Blasen gibt, hat jüngst der ZDF-Journalist Florian Neuhann gezeigt. Und diese Filterblasen interagieren kaum. Die Algorithmen dahinter werden politstrategisch genutzt. Erschreckend ist die These der totalen digitalen Manipulation hinter dem Wahlerfolg Trumps: Hier wird behauptet, dass es eine digitale „Bombe“ gebe. Aber auch schon abgeschwächte Darstellungen bieten Einblicke in die medialen Abgründe, etwa zum Brexit, wie der wohl beste EU-Blogger Jon Worth argumentiert.

Viele Blasen ergeben derweil einen Schaum

In Deutschland haben wir ein Luxusproblem. Die Qualität der öffentlichen und kommerziellen Medien ist so gut, dass sie sich erst sehr spät in die Social-Media-Welt eingemischt haben. Seit Jahren sammele ich in meiner Twitterliste „EU-Presse“ öffentlich alle europapolitischen Journalisten. Und die Posts dieser Liste lese ich wie eine Zeitung. Deutsche kommen erst jüngst hinzu und nur wenige gehen über bloße Eigen-PR hinaus. Der echte Diskurs ist bei klassischen Medienvertretern noch immer die Ausnahme. Die EBD sammelt übrigens deutschsprachige EU-Journalisten auf Twitter.

Deutsche Printpressespiegel sind enorm gehaltvoll, aber auch eine nationale Welt für sich. Das zeigt „Politico Europe“, 2015 vom US-amerikanischen Politico und der Springer AG gegründet, um die Übermacht der Londoner Financial Times, früher Leitmedium für EU-Beamte, zu brechen. Der deutschsprachige Onlinewecker „Morgen Europa“ von Florian Eder zeigt täglich zum Frühstück auf, dass Europapolitik keine von Korrespondenten kommentierte Außenpolitik, sondern gemeinsame Innenpolitik ist. Der europapolitische Diskurs in der doch provinziellen Bundeshauptstadt hat sich spürbar gebessert. Das hilft auch den klassischen Dialogangeboten wie den EBD De-Briefings.

Derweil tut sich in der deutschen Europawissenschaft herzlich wenig. Universitäten und Denkfabriken werden noch lange keinen Simon Hix von der Londoner LSE hervorbringen, der ganze Vorlesungen der Allgemeinheit zur Verfügung stellt und per Twitter interagiert. Phänomenal übrigens sein Lehrstück gleich nach dem Brexit-Votum.

Wie können Medien Breitenwirkung erzielen und gleichzeitig Qualität bewahren? Können „Monopolisten“ wie Diplomaten, Beamte, Korrespondenten und Wissenschaftler im guten demokratischen Sinne aktiv werden? Für die EBD ist für die demokratische Entwicklung Europas entscheidend, dass Medien gezielt für die europäische Integration genutzt werden. Grenzüberscheitende demokratische Kommunikation ist seit 1949 Satzungsauftrag. So arbeitet die Europäische Bewegung International (EMI) dezentral und pluralistisch daran, den Diskurs zu europäisieren. Für Kirchturmdenken sorgen schon die anderen.

Ach ja, und wer behauptet, dass der Buchdruck die Analphabeten damals nicht erreicht hatte, der hat ganz sicher die Marktschreier vergessen. Aber das ist eine andere Geschichte, die der Economist schön erzählt. Die heutigen Mönche sollten in der Verteidigung ihrer alten Welt vor allem nicht bloß angewidert Flugblätter (Tweets) verdammen, sondern sich selbst aktiv einbringen. Sonst werden die Klöster und ihr Qualitätswissen von Bauernstürmen hinweggefegt.

Bernd Hüttemann ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland e.V., schreibt hier aber vor allem als Twitterer @huettemann | @NetzwerkEBD.

Böses Lobbying – gute Bürger?

In diesem Artikel hat mich die FAZ ein wenig verkürzt dargestellt. Natürlich hat Tanja Börzel von der FU Berlin recht, dass Lobbying und Interessenvertretung nicht allein geeignet sind, um die Bedürfnisse der Bürger nach Beteiligung an der Europapolitik zu befriedigen. Aber das ist ja nicht der Punkt. Wichtig ist, dass Demokratie in der Europäischen Union auch (!) von Interessenvertretern gestaltet und gefördert wird. Und genau davon spricht ja ausgerechnet auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es eine neue Form der europäischen Demokratie erklären möchte: „Derartige Formen dezentraler, arbeitsteiliger Partizipation mit legitimitätssteigerndem Potential tragen ihrerseits zur Effektivierung des primären repräsentativ-demokratischen Legitimationszusammenhangs bei. „ (Randnummer 272)

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