Interessenvertretung in Europa – frühere Jahrbuchartikel online abrufbar

IEP Berlin

Im Jahrbuch der Europäischen Integration 2024/25 erscheint im Herbst mein neuer Beitrag zur Interessenvertretung in der EU. Darin analysiere ich die Entwicklungen von Juni 2024 bis Juni 2025: Die anhaltenden Kontroversen um das Transparenzregister, die wachsende Bedeutung strategischer Korruption, die Neuaufstellung der Interessenvertretung nach der Europawahl 2024 sowie drohende Kürzungen von EU-Fördermitteln für nichtstaatliche Organisationen. Im Fazit zeichne ich die Perspektiven für 2025/26 nach – von Omnibuspaketen zum Bürokratieabbau über das Rüstungsprogramm „Readiness 2030“ bis hin zum neuen Mehrjährigen Finanzrahmen. Entscheidend wird bleiben, wie EU-Institutionen Integrität und Transparenz im Spannungsfeld geopolitischer Einflussnahme sichern können.

Gute Nachricht: Meine früheren Jahrbuchartikel sind nun im Online-Archiv des Instituts für Europäische Politik (IEP) frei zugänglich. Wer die Entwicklung von #LobbyEU seit 2012 nachvollziehen möchte, findet die Beiträge hier:

👉 Jahrbuch-Archiv – Institut für Europäische Politik

Leider sind die jeweils aktuellen Jahrgänge noch nicht enthalten, die Verlagslobby stemmt sich weiter gegen Opensourcepublikationen, auch bei steuerfinanzierten Projekten, die mehrheitlich Ehrenamtlich getragen sind. Immerhin, das Archiv bietet schon jetzt eine wertvolle Möglichkeit, die Kontinuität und den Wandel in der EU-Interessenvertretung über mehr als ein Jahrzehnt hinweg zu verfolgen.

Herbst in der europäischen Lobby

Der Qatar-Gate-Skandal scheint nun in weiter Ferne, und es wird zunehmend unwahrscheinlicher, dass Eva Kaili in Belgien wegen ihrer mutmaßlichen Verwicklung in den Korruptionsfall vor Gericht gestellt wird. Dennoch hat sich das Integritätssystem im europäischen Gesetzgebungsprozess weiterentwickelt. Obwohl es für viele nicht weit genug geht, bewegt es sich in die richtige Richtung. In zwei Handbuchkapiteln über Lobbying in der Europäischen Union und in meinem jüngsten Jahrbuchartikel Interessenvertretung in der EU habe ich einige Übersichten über den Integritätsrahmen der EU gegeben.

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Korruptionsbekämpfung in Europa – die EU ist nicht gut genug, aber oft besser als die Nationalsstaaten…

IEP Berlin
Jahrbuch der Europäischen Integration – Institut für Europäische Politik e.V.

Es hätte ein Jahr der Konsolidierung für die Infrastruktur für Interessenvertretung in der Europäischen Union werden können. Seit zwei Jahren legen erstmals alle Gesetzgebungsorgane externe Einflussnahme offen. Mehr und mehr Mitgliedstaaten folgen dem europäischen Vorbild zur Registrierung und Einordnung von Lobbyinteressen.  Aber es wurde das Jahr umfassender Ermittlungen gegen Vorteilsnahme im Umfeld des Europäischen Parlamentes (EP), unter dem Schlagwort „Katargate“. Die Reaktion von Europäischem Parlament und Kommission wirkt ein Jahr vor der Europawahl bemüht wie hilflos. Immerhin wird die Rolle von Drittstaaten auch über Russland und China hinaus intensiver beleuchtet (bei Transparency International Deutschland beleuchtet unter: Strategische Korruption), während die Covid-19-Pandemie der letzten Jahre und ihre Auswirkung auf Lobbyismus weit zurückzuliegen scheint.  Transparenz in der Gesetzgebung ist keine ausschließliche Frage der Korruptionsbekämpfung oder der Fairness im Lobbying unterschiedlichster Gruppen gegenüber EU-Gesetzgeber:innen. Das gesamte Integritätssystem von Interessenvertretung und Gesetzgebungsorganen im Mehrebenensystem steht ein Jahr vor der Europawahl demokratierelevant auf dem Prüfstand. Die Einbindung des Rates in das System war ein erster nicht zu unterschätzender Schritt. Aber verstärkte transparente Rechenschaftspflichten der Mitgliedstaaten sind selbst in der belgischen EU-Ratspräsidentschaft 2024 nicht zu erwarten. Es gibt nur zaghafte Ideen für einen allumfassenden „Lobbyact“, der alle Aspekte der für Demokratie notwendigen transparenten Interessenvertretung mit Korruptionsbekämpfung unter einheitlichen Ethikregeln europäisch wie national sinnvoll miteinander verbindet. Ein Mehrebenen-Lobbyregister ist trotz zunehmender Angleichung der Regeln in EU und Mitgliedstaaten Zukunftsmusik. Derweil wird legitimer notwendiger Lobbyismus ab 2024 einen Gang zurückschalten, da der EU-Gesetzgebungsprozesses am Ende des Politikzyklus steht. Mein Artikel „Interessenvertretung 2023“ erscheint Ende des Jahres hier: https://iep-berlin.de/de/projekte/zukunft-der-europaischen-integration/jahrbuch/ 

Lobbyismus in Berlin und Brüssel – mein Proseminar 2022

Lobbyismus im Krieg, in einer Pandemie… ernsthaft? Mein erstes Proseminar in Präsenz findet diesmal in Passau und Berlin statt. Raum für Orientierung, wie Lobbyismus im Mehrebenensystem auch in extremen Zeiten der Anspannung und Gefährdung funktioniert. Im Fokus steht die Berliner Rolle im EU-Lobbyismus. Im Maschinenraum deutscher Europapolitik findet natürlich Interessenausgleich statt. Extrembeispiel ist das massive und erfolgreiche Lobbying russischer Staatskonzerne auf deutsche Energiepolitik trotz Widerstände in Brüssel und anderen Hauptstädten. Gleichzeitig hat der Bundestag auf öffentlichen Druck die Regulierung von Lobbyismus in Angriff genommen, nach EU-Vorbild. Wie weit wird die Europäisierung von Interessensausgleich und Gesetzgebung noch fortschreiten? All dies versuchen die Studierenden mit mir im Proseminar EU-Lobbyismus in Berlin und Brüssel auf Grundlage von Theorien und empirischer Forschung zu lösen.

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EU-Lobbying in der Pandemie

Interessenvertretung vulgo Lobbying in der EU – mein Beitrag im Jahrbuch der Europäischen Integration 2021: Die Covid-19-Pandemie hat auch auf die intermediäre Einflussnahme von Politik und Gesetzgebung große Auswirkungen. Lobbyismus fand im Berichtzeitraum zu einem großen Teil nicht mehr vor Ort in Brüssel oder den Hauptstädten, sondern telefonisch/digital statt. Gleichzeitig vollzog sich der Legislativprozess außerhalb des üblichen Politikzyklus. Für Gesetzesinitiativen und langfristige Finanzpakete bestand kaum Raum für Konsultationsprozesse.

Dies betraf neben dem Mehrjährigen Finanzrahmen vor allem das Rekord-Wiederaufbauinstrument „Next Generation EU“.  Im Umfeld einer klimapolitischen und auch digitalen Dringlichkeit wären in „normalen Zeiten“ Lobbyaktivitäten sehr viel stärker sichtbar. Dies betrifft ebenso die Bedingungen für den Austritts des Vereinigten Königreiches aus der EU. Gerade wegen der Krisensituation war umso bemerkenswerter ein struktureller Fortschritt in der Governance des Rates der Europäischen Union.

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EU-Lobbyismus in Coronazeiten – Mein Jahrbuchbeitrag 2020

2020 wurde es unübersichtlich in der europäischen Lobbywelt. Selbstverständlich spielte auch hier die Pandemie eine große Rolle. Ohne Frage wurde auch die äußere Einflussnahme auf die europäische Gesetzgebung von der Jahrhundertaufgabe herausgefordert. Die nur langsam anlaufenden Initiativen der neuen Von-der-Leyen-Kommission wurden von Corona überschattet und endeten mit einem Megahaushalt ungekannten Ausmaßes während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, mit allen Konsequenzen für alle Arten von Gruppen mit Gemeinwohl- und/oder Eigeninteressen. Zudem ist ein Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich in Schnellverfahren abgeschlossen worden, fast ohne Einwirkungsmöglichkeiten der Parlamente und noch weniger von Lobbygruppen. In diesen Tagen erschien mein Artikel im „Jahrbuch der europäischen Integration“ auf Papier, diesmal unter dem neuen Titel „Interessenvertretung“. Redaktionsschluss war leider schon im Sommer 2020.

 

Die Kneipe der Europäischen Union

Ein politisch-psychologischer Gedankencocktail

Der Mensch in seiner Mannigfaltigkeit ist ebenso unergründbar wie seine Umwelt. Die verwinkelten Gassen seiner Psyche finden ihr Spiegelbild in der Dynamik von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Doch was passiert, wenn der Mensch sein Spiegelbild nicht mehr erkennt? Wenn seine Umwelt sich verändert und er den Wandel nicht begreifen kann? Die Europäisierung in all ihren Facetten stellt für das Individuum in all seinen Bedürfnissen einen tiefgreifenden Wandel dar. Der einfache Bürger muss nun verstehen lernen. Er muss ein Verständnis entwickeln für Konzepte, die nationalstaatliche Denk- und Handlungsmuster aufbrechen, die Demokratie neu gestalten und eine neue supranationale Ebene konstruieren. Doch wer entwickelt ein Verständnis für den Bürger?

Zweifelsohne spielt die Zivilgesellschaft eine große Rolle auf dem Pfad zu mehr Verständnis für den Bürger, aber auch für die Europäisierung. Ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, dass die Zivilgesellschaft einen evidenten Beitrag zur Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse leistet. Aus dieser These resultiert die Frage, wie dieser Beitrag zur Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse in der Realität aussieht. Um der Fragestellung gerecht zu werden, stelle ich im ersten Schritt die vier psychologischen Grundbedürfnisse vor. Anschließend schlage ich die Brücke zwischen dem theoretischen Konstrukt der Psychologie und den manifesten Indikatoren der Europäisierung. Im Anschluss werden die gewonnenen Erkenntnisse resümiert und die Fragestellung beantwortet.

 

Stellen Sie sich vor. Sie sitzen in einer Kneipe und der Barkeeper stellt Ihnen einen Cocktail hin. Das Glas symbolisiert die Politik. Der Cocktail wiederrum symbolisiert die Wirtschaft. Für den Mann von Welt viel zu schwach und mit Leichtigkeit genießbar. Für den Ottonormalverbraucher ungenießbar und deutlich zu stark. Also was tun? Verständnis für den Bürger haben und den Cocktail neu mixen oder drauf bestehen, dass er getrunken wird?

Der Homo Sapiens in seiner unerschöpflichen Diversität wird nun auf unterschiedlichste Weise reagieren. Der eine nippt ganz zärtlich am Cocktail. Der andere wird lautstark, beschwert sich über die unzumutbare Substanz. Ein anderer bittet höflich um eine Alternative und hinterfragt die ganze Situation. Kurz und knapp, kein Mensch verhält sich wie sein gegenüber. Potentielle Ursachen für unterschiedliches Verhalten finden wir in der Psychologie. So wird der Mensch im Alltag durch seine Erfahrungen, Denk- und Handlungsmuster, Emotionen und Gene gelenkt.

Die Wirtschaft profitiert schon lange von diesem Wissen und konzipiert ihre Führungsstile nach Wirtschaftlichkeit. Die Devise lautet, je zufriedener der Mitarbeiter, desto gewinnbringender. Eine wissenschaftliche Grundlage bietet die Neuropsychologie. In erster Linie, die vier psychologischen Grundbedürfnisse in ihrer Universalität und Interdisziplinarität. Diese Merkmale sind Garant für eine hohe Konstruktvalidität und erlauben eine Anwendung auf jedes gesellschaftliches Phänomen. Sie bilden die theoretische Grundlage meiner Untersuchung.

Bindung. Unmittelbar nach der Geburt baut der Mensch, mittels des Bindungshormons Oxytocin, eine enge Beziehung zu seinen ersten Bezugspersonen auf. Das Bedürfnis nach Bindung ergibt sich aus dem Verlangen nach Schutz, Nähe und Vertrauen. Im Verlauf seines Lebens knüpft der Mensch weitere soziale Bindungen. Die Basis für ein stabiles Umfeld bildet ein intensiver sozialer Austausch. Je intensiver der positive soziale Austausch, desto größer ist das Vertrauen in die Bezugspersonen. (Vgl. Peters 2013, S.73)

Selbstwert und Schutz. Der Mensch konstruiert während seines Lebens ein Selbstbild. Dieses Bild entspringt subjektiver Selbstwahrnehmung und Erfahrungen. Sensibel reagiert der Mensch auf Situationen, die sein Selbstwertgefühl steigern oder schwächen. In diesem Sinne tragen nicht nur monetäre Anreize zu einer Steigerung oder Schwächung des Selbstwertgefühls bei. Partizipation, Mitsprache, Gesetze und Programme können ebenfalls als Belohnung oder Sanktion perzipiert werden. Dieser Prozess wird über das Stresshormon Cortisol gesteuert. Wird ein Mensch belohnt, wird das Hormon freigesetzt und eine Steigerung des Wohlbefindens tritt ein. (Ebd. S. 76)

Lust und Unlust. Dem einen schmeckt der Cocktail, dem anderen nicht. Dementsprechend verspürt der eine mehr Lust beim Verzehr des Cocktails, als der andere. Das Grundbedürfnis des Lustempfindens ist das subjektivste Bedürfnis. Anhand zahlreicher persönlicher Erfahrungen bewertet das Individuum unbewusst bestimmte Situationen. Die Verknüpfung von Emotion und Körper ist in diesem Fall besonders offenkundig. Sorgt für Individuum Anton ein Bibliotheksbesuch für einen wahrhaften Dopamin-Rausch, empfindet Individuum Berta dahingegen beklemmende Unlust. (Ebd. S.77)

Orientierung und Kontrolle. Das Grundbedürfnis der Orientierung und Kontrolle fächert sich auf in drei Bereiche. Der Mensch möchte seine Umwelt erklären. Aus der Erklärung heraus entsteht Verständnis. Betrachten wir die Wissenschaft finden wir dieses Bedürfnis wieder. Anhand von Experimenten, Beobachtungen und Erfahrungen klassifizieren wir unsere Umwelt und gewinnen Erkenntnisse. Neben dem Bedürfnis nach Verständnis und Erklärung spielt eine dritte Komponente eine wesentliche Rolle. Der Drang nach Beeinflussung und Autonomie. Der Mensch ist ein freiheitsliebendes Geschöpf und möchte seine Umwelt mitgestalten und bestimmen. Wird eine Person in dieser Kompetenz eingeschränkt, resultiert Passivität und Widerstand. (Ebd. S.74)

Inwiefern hängen nun die psychologischen Grundbedürfnisse mit der Europäisierung und der europäischen Integration zusammen? Wo ist die Verbindung zur Zivilgesellschaft? Die Topmanager der Wirtschaft sind sich einig. Die psychologischen Grundbedürfnisse müssen berücksichtigt werden. Anderenfalls entsteht Passivität, die Mitarbeiter sind unmotiviert und im schlimmsten Fall verfallen sie in tiefe Depressionen und anderen Multisystemerkrankungen. Der TK-Depressionsatlas 2015 verzeichnet eine beängstigende Zunahme von Depressionen und den daran gekoppelten Antidepressiva-Konsum (Depressionsatlas 2015). Diverse psychologische Studien untersuchen die Langzeitfolgen von unserem Alltag auf Lebensdauer, Krankheitsbilder und Zufriedenheit. Die gewonnenen Erkenntnisse sind für die Wirtschaft und die Politik von Nutzen. Gewiss der Umweltfaktor Politik bildet, gemessen an Zeit- und Energieaufwand, für einen Großteil unserer Gesellschaft einen kleineren Anteil ab. Dennoch beeinflusst die Politik im Wechselspiel mit Wirtschaft und Gesellschaft unseren Alltag.

In einer zunehmend komplexer werdenden Welt sollten wir der Tatsache ins Auge blicken, dass zahlreiche Umwelteinflüsse unsere Psyche beeinflussen. So existieren zahlreiche Korrelationen zwischen der Gesellschaft und den Regierungs- Wirtschafts- und Sozialsystemen. Genau wie in der Wirtschaft strebt das Individuum in der politisch-gesellschaftlichen Sphäre nach der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse. Wird das Individuum enttäuscht, entsteht Widerstand und Passivität. Jean-Claude Juncker beschreibt es in einem Interview als Entfernung, interpretierbar als Distanzierung, der Bürgerinnen und Bürger von Europa und fügt noch hinzu, dass wer das nicht erkennt blind und taub sei (Arte 2015).

Das Problem ist klar. Das Projekt Europäische Union leidet. Die Tatsache, dass bei der letzten Europawahl lediglich 43,09 Prozent europaweit zur Wahlurne spazierten, die zahlreichen europafeindlichen und populistischen Parteien einen starken Aufwind erleben, das Demokratiedefizit institutioneller und gesellschaftlicher Art so vor sich hindümpelt und Europa sich in der Ukraine-Russland-Krise gespalten präsentiert, unterstreicht diese plakative, bewusst provokative Annahme.

Also benötigt unsere Psyche einen Lichtblick oder vielmehr ein Lichtstrahler. Wie wäre es mit einer europäischen Zivilgesellschaft, gestärkt durch den Artikel 11 EUV? Erstmalig wird den Bürgerinnen und Bürgern und der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zugesichert, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der EU öffentlich bekanntzugeben und auszutauschen. Darüber hinaus legt der Artikel Gütekriterien für einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog fest. Der partizipatorische Charakter und die Chance sich über diverse Mechanismen und Instrumente in den politischen Entscheidungsprozess einzuklinken, wurde somit primärrechtlich verankert.

Nun stellt sich die Frage, wer oder was ist die Zivilgesellschaft? Doch wie so oft, liegt die scientific community mit sich im Clinch. Zumindest besteht ein Minimalkonsens, dass die Zivilgesellschaft eine Pufferzone zwischen Wirtschaft und Politik darstellt. Zu ihr gehören Verbände, Sportvereine, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und viele mehr, die ein weites Spektrum von Arbeit, Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung bis Kultur abdecken. Für uns steht nicht die exakte Definition im Vordergrund, sondern vielmehr die Funktionen einer Zivilgesellschaft.

Eine zentrale Funktion ist der Schutz des privaten und gesellschaftlichen Raums. Ebenso wichtig ist die Beobachtung und Kontrolle der staatlichen Macht und die Forderung nach Rechenschaft und Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk. Außerdem werden in der Zivilgesellschaft soziales Kapital und Interessen gebündelt und den Menschen Partizipations- und Einbringungsmöglichkeiten geboten. Sie sprengt gesellschaftliche cleavages auf und trägt zur Lösung gesellschaftlicher Spannungen, gesellschaftlicher Inklusion, Vertrauen, Toleranz, Kooperation und Demokratisierung bei. (Vgl. Keane/Merkel S.449f)

An dieser Stelle lohnt sich eine Rekapitulation der psychologischen Grundbedürfnisse. Denn wer diesen Zusammenhang nicht erkennt, wandelt blind und taub durch unsere Umwelt. Das Grundbedürfnis Bindung finden wir in der Partizipation, gesellschaftlichen Inklusion und Bündelung von sozialem Kapital. Das Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle in der Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk, das Grundbedürfnis seinen Selbstwert zu steigern in den Einbringungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten seiner Interessen. Ohne Zweifel besteht eine Korrelation zwischen den psychologischen Grundbedürfnissen und der Zivilgesellschaft.

Nichtsdestoweniger, das Problem der Distanzierung bleibt. Viele Bürgerinnen und Bürger verstehen die Europäische Union nicht. Allerdings sind ein fundiertes Verständnis und das Gefühl autonom zu sein, von horrender Bedeutung für eine Annäherung und Akzeptanz. Die aufgezeigte Korrelation, zwischen Zivilgesellschaft und Politik, spielt hier eine tragende Rolle. Folgende Illustrationen verdeutlichen das Potential der Zivilgesellschaft die Kneipe der Europäischen Union für Kenner und für Bürgerinnen und Bürger zu öffnen und attraktiv zu machen.

Im Zuge der Datenerhebung für den Eurobarometer 2014 wurden in sechs Ländern Interviews durchgeführt. Für einen Dänen liegt das Hauptproblem in der Art und Weise, wie Informationen übermittelt werden (Eurobarometer 2014). Die Quintessenz, Informationen müssen verständlich und einfach zugänglich sein. Denn versteht der Bürger was in seiner Umwelt passiert, gibt ihm das ein Gefühl von Orientierung und Kontrolle und steigert sein Lustempfinden und Selbstwertgefühl. Anschließend sollte den Bürgerinnen und Bürgern die Option der Beeinflussung eigeräumt werden. In der Wirtschaft scheitern ungefähr 70 Prozent der Innovationsprozesse, weil das Personal nicht aktiv in die Entscheidungsprozesse eingebunden wurde (Peters 2015, S.128). Das Personal hatte somit weder Informationen noch Möglichkeiten der Beeinflussung. Warum sollte das bei Entscheidungen im politischen Prozess anders sein? Die Zivilgesellschaft erfüllt deshalb eine Schlüsselrolle. Sie trägt zur Aufklärung der Gesellschaft bei und bietet die Möglichkeit aktiv zu werden und sich einzubringen.

Neben der aktiven Teilnahme und dem grundlegenden Verständnis ist das Vertrauen und die Bindung ein weiterer Eiswürfel im Cocktail der Europäischen Union. In einer Rede zur Bedeutung von Bürgerbeteiligung im politischen Prozess der Generalsekretärin, Bundesministerium für Inneres, Cornelia Rogall-Grothe stellt sie die Relevanz der Einbeziehung von bürgerlichen Argumenten heraus (Rogall-Grothe 2011). Ihr zufolge ist es wichtig die Bürgerinnen und Bürger zu informieren und anzuhören und darüber hinaus, die Argumente in den politischen Entscheidungsprozess zu integrieren (Ebd.). Auch hier kann die Zivilgesellschaft, gestärkt durch den Artikel 11 EUV, einen Beitrag leisten. Das zeigen verschiedene Netzwerke, die sich für mehr bürgerliches Engagement einsetzen. Im Bericht des Fachworkshops des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement wird in einer Tabelle aufgezeigt, wie man am besten seine Interessen über verschiedene Mechanismen in den politischen Entscheidungszyklus einbringt (BBE). So existiert eine wahre Vielfalt an Beteiligungsmöglichkeiten, von transparenter und wechselseitiger Information, über Dialoge und Beratungen, bis hin zu Partnerschaften. Jede, der genannten Beteiligungsmöglichkeiten, leistet einen Beitrag zur Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse.

 

Spätestens jetzt ist klar, die Bürgerinnen und Bürger möchten sich beteiligen. Es reicht ihnen nicht ein Sandkorn im Sandkasten der Massenparteien und Gewerkschaften zu sein. Die Beteiligungsformen verändern sich und eine Studie der Bertelsmann Stiftung unterstreicht, dass der Gang zur Urne für zweidrittel der deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ausreichend ist (Vehrkamp 2014). Sie möchten mitentscheiden und gestalten. Das ist in der Psyche der Menschen verankert.

Ich habe anfangs die These aufgestellt, dass die Zivilgesellschaft einen Beitrag zur Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse leistet. Im Anschluss an meine Untersuchungen, setze ich einen drauf und behaupte, dass die Zivilgesellschaft aus den psychologischen Grundbedürfnissen resultiert. Die Psyche eines Menschen ist auf eine starke Zivilgesellschaft und partizipatorische Elemente ausgelegt. Wir wollen uns binden, kooperieren und unsere Umwelt autonom beeinflussen. Eine intakte Zivilgesellschaft bietet jedem Individuum diese Chance. Ein jeder von uns hat die Chance über Vereine, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und andere Formen seine Gedanken in den Cocktail einzubringen. Wir haben die Möglichkeit das Glas der Politik zu formen, den Cocktail neu zu mixen und das Sahnehäubchen oben drauf zu setzen.

Trotz allem dürfen wir nicht vergessen, welche Verantwortung mit der Chance einhergeht. Wie gezeigt, die Zivilgesellschaft ist Ausdruck der psychologischen Grundbedürfnisse. Es muss dabei bleiben, dass die Zivilgesellschaft sich der Befriedigung der Grundbedürfnisse, der Bürgerinnen und Bürger verschreibt und nicht zu einem elitären Machtinstrument verkommt. Darüber hinaus sollte es ihr Anspruch sein, sich besonders den Bevölkerungsteilen zu widmen, die sozialbenachteiligt sind und resigniert haben, denn schlussendlich sitzen wir alle in der gleichen Kneipe.

 

 

Quellenverzeichnis

Frey, Dieter/Schmalzried, Lisa (2013): Philosophie der Führung. Gute Führung lernen von Kant, Aristoteles, Popper & Co.. Heidelberg: Springer Verlag.

Keane, John und Wolfgang Merkel (2015): Zivilgesellschaft, in: Raj Kollmorgen, Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung. Wiesbaden: Springer VS: 443-454.

Peters, Theo/Ghadiri, Argang (2011): Neuroleadership. Grundlagen, Konzepte, Beispiele. Erkenntnisse der Neurowissenschaften für die Mitarbeiterführung. Wiesbaden: Gabler Verlag.

Vehrkamp, Robert (2014): Einwurf. Zukunft der Demokratie. Bertelsmann Stiftung.

 

Internetquellen

Arte (2015): 100 Tage Jean-Claude Juncker. Unter: http://www.arte.tv/guide/de/056741-000/100-tage-jean-claude-juncker (zuletzt abgerufen: 25.02.2015).

Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (2012): Partizipative Demokratie in Europa. Chancen für Bürgerbeteiligung nach dem Lissabon-Vertrag. Unter: http://www.b-b-e.de/fileadmin/inhalte/PDF/publikationen/Partizipative_Demokratie_in_Europa.pdf (zuletzt abgerufen: 25.02.2015).

Depressionsatlas (2015): Unter http://www.tk.de/tk/themen/050-publikationen/depressionsatlas-2015/696240 (zuletzt abgerufen: 26.02.2015).

Eurobarometer 82: Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb82/eb82_first_de.pdf (zuletzt abgerufen: 25.02.2015).

Europa hat gewählt (2014). Landeszentrale für politische Bildung. Baden-Württemberg. Unter: http://www.europawahl-bw.de (zuletzt abgerufen: 25.02.2015).

Rogall-Grothe, Cornelia (2011): Die Bedeutung von Bürgerbeteiligung im politischen Prozess. Unter: http://www.protokoll-inland.de/SharedDocs/Reden/DE/2011/05/strg_mohnpreis.html (zuletzt abgerufen: 25.02.2015).

 

Lobbyismus in der partizipativen EU-Demokratie

2 Jahre gab es keine Übersicht zu Lobbyismus im Jahrbuch der Europäischen Integration. Nun durfte ich in der neuesten Ausgabe des seit 1980 erscheinenden Standardwerks diese Lücke stopfen. Alles fein säuberlich auf Papier gedruckt, für Blogs leider nicht geeignet.

Ein paar Auszüge mag der Verlag verzeihen: „Lobbyismus ist integraler Bestandteil jedes politischen Systems, so auch des Mehrebenensystems EU. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist er Teil der konstitutionellen Ordnung. In den letzten Jahren musste sich Lobbyismus einer erweiterten Gesetzgebung bei vergrößerter Akteurslandschaft und Parlamentarisierung, aber auch neuen Instrumenten wie dem Transparenz-Register und Verhaltenskodizes stellen. Um alle Aspekte des Lobbyismus erfassen zu können, wird der Begriff hier neutral verwendet. Nur so kann gesellschaftliche bzw. nichtprofitorientierte und wirtschaftliche bzw. profitorientierte Einflussnahme auf staatliche bzw. institutionelle Akteure gewichtet und bewertet werden.“

Ich hatte zwei zusätzliche Seiten, um in das Thema, das in der Europawissenschaft noch immer recht stiefmütterlich behandelt wird, ausführlicher einzuführen.

EU-Lobbyismus ist nur im gesellschaftlichen Kontext der Nationalstaaten zu verstehen. Pluralismus, Korporatismus, Etatismus und politische Netzwerke bieten oft vernachlässigte Orientierungsmodelle auch im Mehrebenensystem. Die oft berechtigte Kritik an EU-Lobbyismus greift mit der simplen Sicht auf Brüssel zu kurz. Nationale „Heimatfronten“ haben einen großen Einfluss. Sie funktionieren höchst unterschiedlich, bestimmen aber die Entscheidungsfindung in der Brüsseler Arena auch kulturell mit.

Die neue konstitutionelle Ordnung des Lissabon-Vertrages ging mit dem Postulat für eine bürgernahe EU einher. Die erste erfolgreiche Bürgerinitiative (Right to Water) und selbst die erste Subsidiaritätsrüge (Monti-II) sind aber Erfolge von lobbistisch tätigen Gruppen und nicht von „einfachen Bürgern“.

„Die neuen Spielregeln des Lissabon-Vertrags werden langsam sichtbar bzw. beginnen zu wirken. Kodizes und Register machen deutlich, wie komplex das Abwägen von Interessen durch Abgeordnete und Beamte im Verbund mit Lobbyismus in der Öffentlichkeit geworden ist. Dabei ist eine allgemeine anerkannte Interpretation des Art. 11 EUV als Lobby- und Transparenz-Artikel noch nicht festzustellen. Im Gegenteil: Die Inflation von informellen Trilogen schuf jüngst selbst für professionelle Lobbyisten weniger Transparenz. Aber die nun parlamentarisch getragene Kommission Juncker kann zu einer verbesserten Governance auch in Bezug auf Lobbyismus und Partizipation führen.“

  • Lobbyismus in der partizipativen Demokratie, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2014, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2014, S. 383-388.

Erklär mir einer Brüssel in Berlin

Eine Woche vor der Mitgliederversammlung meines Arbeitgebers Europäische Bewegung Deutschland stellt der Berliner Tagesspiegel in seiner Hauptstadt-Beilage „Agenda“ die Arbeit des Netzwerks und meinen Job in der Rubrik „in der Lobby“ ausführlich vor. Besonders freut mich die Brücke von Berlin zu meiner Uni in Passau. Auch selten: Interessenvertretung und europäische Integration wird gleichermaßen neutral dargestellt. Nicht der Raum sondern der Inhalt braucht Kritik. Den gesamten Artikel gibt es als E-Paper ooooder bei Twitter:

Der Tagesspiegel „Agenda“ bringt , das „Journal für Politik in der Bundeshauptstadt“ jeweils dienstags in den Sitzungswochen des Bundestages heraus, in Kürze sind wöchentliche Agenda-Seiten mit Hintergrundberichten aus der Berliner Politikszene geplant. Laut Leseranalyse 2013 hat der Tagesspiegel eine tägliche Verbreitung von 284 000 Lesern und ist nach (nach eigenen Angaben mit 54 % Leserschaft unter den Entscheidern in Politik und Wirtschaft das „Leitmedium der Haupstadt“.

 

Genmais: Warum er kommt, obwohl ihn keiner will. Haben Interessenvertreter zu viel Einfluss?

Dienstag, 11. Februar 2014.: Die deutsche Bevölkerung ist empört. Deutschland hatte sich an diesem Tag bei der Abstimmung der EU-Agrarminister nicht etwa gegen eine Zulassung von gentechnisch verändertem Mais ausgesprochen, wie es dem Stimmungsbild der Bevölkerung entsprochen hätte. Nein, Deutschland hatte sich schlicht und einfach der Stimme enthalten. Und das, obwohl es mit seiner Stimme die Nichtzulassung wahrscheinlich hätte herbeiführen können. Die Begründung: Die Große Koalition habe sich zuvor nicht einigen können. Und der Wille des Volkes? Bleibt unberücksichtigt. Es muss sich wohl damit abfinden, dass Genmais nun mangels ausreichender Gegenstimmen europaweit zugelassen wird. Doch wenn nicht die Mehrheit des Volkes bei einem derart wichtigen gesellschaftlichen Thema die Richtung vorgibt, wer tut es dann? Werden Abgeordnete, die „Vertreter des Volkes“ mehr und mehr zu Vertretern anderer politischer Akteure, z.B. von Konzernen, die ein großes Interesse daran haben, Genmais auch in Europa anbauen zu dürfen? In welchem Verhältnis stehen der Wille des Volkes und der Einfluss dieser Konzerne? Was ist die Rolle der Interessenvertreter und wie beeinflussen sie die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene?

Im Folgenden soll anhand des Zulassungsprozesses von gentechnisch verändertem Mais in der EU beleuchtet werden, welche Auswirkungen Interessenvertretung auf die Entscheidungsfindung haben kann und warum sowohl ein Demokratiedefizit der EU als auch eine fehlende europäische Öffentlichkeit vielfach beklagt werden.

Genmais, das ist für viele Menschen in Europa ein äußerst heikles Thema, ganz besonders in Deutschland. Während die grüne Gentechnik in vielen anderen Staaten schon seit längerem Einzug in Landwirtschaft und Nahrungskette gehalten hat, gibt es vor allem in Deutschland noch erhebliche Bedenken. Die Menschen haben Angst vor gesundheitlichen Risiken und befürchten eine zu starke Belastung der Natur. Tatsächlich lehnen laut aktuellen Umfragen 88% der Bevölkerung gentechnisch veränderten Mais ab (vgl.: Kahrs, neopresse.com, 2014: Genmais 1507. GroKo-Deal und erster Offenbarungseid der Regierung). Doch wird Genmais in Zukunft wohl auch auf deutschen Feldern angebaut werden. Wie kann das sein? Bei der eingangs erwähnten Abstimmung des EU-Ministerrats in Brüssel lehnten 19 von 28 EU-Staaten den Anbau der Sorte Genmais 1507 in Europa ab. Diese einfache Mehrheit reicht jedoch nach Art.16 Abs.3 EUV nicht aus, es wird eine qualifizierte Mehrheit benötigt. Eine qualifizierte Mehrheit gegen den Beschluss kam jedoch nicht zustande, da sich u.a. Deutschland seiner Stimme enthielt. Die Kommission wird den Anbau von Genmais zulassen müssen. (Art.18 Abs.1 i.V.m. Art.30 Abs.2 der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG).

Es stellt sich zwangsläufig die Frage, warum sich Deutschland in einer so wichtigen, jeden einzelnen Bürger betreffenden Frage der Stimme enthalten hat. Dies umso mehr, als die Meinung der Bevölkerung selten so deutlich zutage tritt, wie in der Genmais-Debatte. Die Bundesregierung begründete ihr Abstimmungsverhalten damit, dass sie sich intern nicht habe einigen können. Das CDU-geführte Forschungsministerium, ebenso wie die Bundeskanzlerin hießen die grüne Gentechnik gut, während das CSU-geführte Agrarministerium und das SPD-geführte Wirtschaftsressort dieser ablehnend gegenüber ständen. Dennoch: Kann eine eindeutige Position der Bevölkerung zu einem Thema, das in der Umsetzung alle gleichermaßen betrifft, einfach so übergangen werden? Zumal sogar im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung festgelegt wurde, dass die Bedenken eines Großteils der deutschen Bevölkerung gegenüber grüner Gentechnik anzuerkennen seien (vgl. Koalitionsvertrag 2013: 87). Offensichtlich wurde dieser „Phrase“ als einer unverbindlichen Absichtserklärung keine Bedeutung zugemessen. Der Begriff „Demokratiedefizit“ erscheint in diesem Fall durchaus zutreffend. Denn ist es nicht die demokratisch legitimierte Bundesregierung, die den Bürger und seine Interessen vertreten sollte? In wessen Interesse handelt sie sonst? Haben vielleicht die Interessenvertreter der Saatgutkonzerne einen zu großen Einfluss auf die Politiker?

Fest steht, dass Konzernen wie Pioneer Dupont sehr daran gelegen ist, genveränderten Mais auch in Europa anbauen zu können. Pioneer Dupont hatte bereits 2007 zu Recht vor dem Gericht der EU in Luxemburg (EuG) gegen die Europäische Kommission Klage erhoben, weil der Start des Verfahrens über die Genmais 1507-Entscheidung in Europa nicht innerhalb der erforderlichen Frist eingeleitet worden war. (vgl.: Pioneer Hi-Bred International/ Kommission der europäischen Gemeinschaften 2007)
Auch das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union ist hier sicherlich ein nicht zu unterschätzender Faktor, der das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung erklären könnte. Eine strikte Ablehnung der Zulassung eines amerikanischen Produktes hätte eine zusätzliche Gefahr für das Abkommen und die Beziehungen zu den USA bedeuten können. Amerika und die EU sind an einem derartigen Abkommen sehr interessiert, das wirtschaftliches Wachstum und mögliche Arbeitsplätze gewinnen soll. Allerdings besteht die Gefahr, dass die europäischen Standards, z.B. in der Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung, dann nicht mehr wie bisher gewahrt werden können. Sie würden möglicherweise an die amerikanischen Standards angeglichen werden. Produkte, die in Amerika zugelassen sind, würden in der Folge auch nach Europa Zugang erhalten. Laut einer US-Studie stehen viele Europäer diesem Abkommen daher mit Argwohn gegenüber: Gerade im Bereich Lebensmittelsicherheit vertrauen rund 94% der Deutschen ausschließlich auf die europäischen Standards. (vgl.: Fischer, US-Studie, 2014: Deutsche zweifeln an Freihandelsabkommen) In der Genmais-Debatte handelt es sich um eine Gradwanderung zwischen Innovation und Risikoeingrenzung. Die deutsche Bundesregierung setzt hierbei offenbar auf den Faktor Innovation. Hat sie sich von den Argumenten der Interessenvertreter amerikanischer Konzerne überzeugen lassen? Diese beteuern immer wieder die Unschädlichkeit ihrer Produkte und drängen auf die Zulassung in Europa.

Es gibt durchaus Studien, die die Verträglichkeit von Genmais für Mensch und Natur bestätigen und sogar Vorteile bei einer Umstellung von natürlichem zu gentechnisch verändertem Mais sehen. Demnach sei ein Argument für den Anbau von Genmais die Bekämpfung des Welthungers: Durch die eigene Insektenresistenz des Genmais 1507 sollen Ernten ertragreicher werden und somit die Möglichkeit bieten, für eine Verbesserung der Lebensqualität in der Dritten Welt zu sorgen. Auch könnten Genpflanzen als Energiemittel dienen: eine Chance dem Klimawandel entgegenzutreten und für Nachhaltigkeit zu sorgen. Kritiker lassen sich von diesen Argumenten hingegen nicht beeindrucken. Die Risiken, die entstehen könnten sobald die Natur oder der Mensch mit genmanipulierten Pflanzen bzw. Lebensmitteln in Berührung kommt, seien noch zu wenig erforscht. Sie verweisen auf verschiedene Studien, die zeigen, dass gewisse umwelt- und gesundheitsschädigende Risiken durchaus nicht auszuschließen sind. So konnten Resistenzen von Schädlingen gegenüber dem „Wundermais“, der angeblich Schädlinge fern halten soll beobachtet werden. Diese erforderten in der Folgezeit einen erhöhten Einsatz an Spritzmitteln. In Brasilien, wo der Mais schon früher angebaut wurde, führte das zu einer Vernichtung der Ernte und großen finanziellen Verlusten der Bauern. Sie mussten zunächst das teure Saatgut und später teures Spritzmittel kaufen. Der Genmais, der Hoffnungen weckte, weniger Spritzmittel verwenden zu müssen, kehrte diese in der Realität nun ins Gegenteil um. Die Bauern wurden von dem Saatgut, gegen das die Insekten noch keine Resistenzen gebildet hatten, abhängig und den Gewinn machten ausschließlich die Konzerne, wie Saatguthersteller Pioneer. Sie konnten im Interesse der eigenen Profitmaximierung Saatgut und Spritzmittel doppelt verkaufen.

Die European Food Safety Authority (EFSA), deren Urteil über Lebensmittelsicherheit die Entscheidungen der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und der EU-Mitgliedsstaaten maßgeblich beeinflusst, hat Mais 1507 als unbedenklich eingestuft. Doch werden zuweilen auch gewisse Zweifel an der Unabhängigkeit der EFSA vorgebracht. So kommt es Recherchen der Süddeutschen Zeitung zufolge dort immer wieder zu Interessenskonflikten, da mehrere Mitarbeiter der EFSA gleichzeitig für Konzerne der Lebensmittelindustrie arbeiten. Das ist erlaubt, solange diese „Doppelbeschäftigungen“ transparent sind. Dennoch erscheint es äußerst bedenklich, wenn Mitarbeiter einer Aufsichtsbehörde gleichzeitig Interessen von Konzernen vertreten, die beaufsichtigt werden sollen. (vgl.: Falck/Oppong, 2011: Abhängige Kontrolleure) Das Urteil der EFSA zum Mais 1507 erscheint in diesem Zusammenhang damit zumindest als diskussionswürdig.

Es wird deutlich, dass Interessenvertretung immer und überall stattfindet und doch für Außenstehende nur schwer zu fassen ist. Dabei kann sie sowohl positiv als auch negativ empfunden werden, aber sie ist letztlich unverzichtbar. Interessenvertreter bringen das nötige Fachwissen in den Entscheidungsprozess mit ein, ohne das keine vernünftige Beurteilung möglich ist. Allerdings kann dieser Einfluss durchaus auch manipulierend wirken, so dass mitunter nicht sachgerechte Entscheidungen zustande kommen können. Andererseits muss aber auch zugestanden werden, dass die Aufgabe der Interessenvertreter nicht nur in der Beeinflussung, sondern auch in der Beobachtung europäischer Politik liegt. Ohne sie könnte kein Akteur schnell genug auf Veränderungen reagieren. Der einzelne Bürger bekommt davon jedoch meist nichts mit. Vielfach wird eine fehlende Transparenz beklagt, die es der Öffentlichkeit ermöglichen würde Anteil an der Entscheidungsfindung zu nehmen. Das Zulassungsverfahren von Genmais zeigt zudem, dass der Verbraucher keinerlei Einfluss auf die Entscheidung nehmen kann, deren Auswirkungen ihn jedoch persönlich betreffen werden. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit in einer Demokratie, in der doch eigentlich „das Volk“ größtenteils mitentscheiden sollte, könnte in der Konsequenz zu mehr Politikverdrossenheit führen. Um die Bürger zu beruhigen wurde nach der Abstimmung im Februar nach einer Hintertür gesucht, die es ermöglichen könnte, den Anbau von Genmais noch zu verhindern. Solange keine echte Gefahr für den Verbraucher oder die Umwelt bestätigt ist, darf es laut EU-Recht kein nationales Anbauverbot geben.

In Deutschland hatte sich der damalige Landwirtschaftsminister Friedrich deshalb für ein nationales „opt-out“-Verfahren ausgesprochen. Auch der Bundesrat forderte in einer Stellungnahme an die Bundesregierung deren Einsatz für eine gentechnikfreie Landwirtschaft in der EU. Sollte dies nicht durchgesetzt werden können, wären nationale Ausstiegsklauseln als Mittel zur Selbstbestimmung einzelner Staaten notwendige Maßnahmen. (vgl. Bundesrat, Stenografischer Bericht, 2014: 54-55) Ein Hoffnungsschimmer für Genmaiskritiker? Noch stellen sich die Bundesregierung und Belgien gegen eine derartige Regelung. Es bleibt also weiterhin abzuwarten ob eine Lösung des Problems in Sicht ist oder lediglich eine Art Beruhigungstablette für den Bürger generiert wurde.

Andererseits müssen sich die europäischen Bürgerinnen und Bürger vielleicht auch erst Schritt für Schritt an die neuen Technologien gewöhnen. Aus der Geschichte weiß man, dass technischer Fortschritt zunächst meist auf Ablehnung stößt. Denn „was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht.“ Genmais kennt der Bürger noch nicht und gerade darin sieht er die Gefahr. Genmais-Befürworter und Genmais-Kritiker werfen sich gegenseitig vor, dass ihre Studien nicht ausreichend fundiert seien. Für eine endgültige Entscheidung, gestützt auf klare wissenschaftliche Belege unabhängiger Forschung braucht es wohl noch etwas mehr Zeit. Vielleicht sind die Europäer aber in gewisser Weise bald sogar gezwungen dieses neuartige Produkt zu akzeptieren, um einen freien Handel zu gewährleisten. Eine derartige Voreiligkeit seitens der EU würde allerdings das Vertrauen der Bürger zutiefst erschüttern und besonders mit Blick auf die diesjährigen Europawahlen wäre solch ein Vertrauensbruch fatal.

Meinungsartikel von Sophie von Stralendorff, Passau 6. Mai 2014

Der Artikel entstand im Rahmen des Proseminars Interessenvertretung in der Europäischen 
Union an der Universität Passau (Wintersemester 2013/14).

 

Literaturverzeichnis:

 

Bildnachweis: By Lindsay Eyink from San Francisco, CA, USA (Research field) [CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons