Auf Nebenwegen: von Conques nach Toulouse

Nächstes Jahr erreiche ich auf #berndscamino die Pyrenäen. Aber erstmal genoss ich 230 Kilometer zwischen Conques und Toulouse. Ich wählte bewusst diesen Nebenweg, um dem Massenpilgern auf der Via Podiensis auszuweichen. Dass ich unterwegs nur einer einzigen Pilgerin begegnen würde, hätte ich allerdings nicht erwartet.

Conques ist in seiner mittelalterlichen Spiritualität eingebettet ein einem für Deutsche unbekannten Frankreich. Ausgerechnet am 14. Juli war Paris gefühlt unendlich weit entfernt – und das sollte auch so bleiben. Der Weg erinnerte mich an meine Erfahrungen vor Le Puy: improvisiert, persönlich, herzlich.

Die meisten Adressen für private und familiäre Unterkünfte erhielt ich von Les Amis des Chemins de Saint-Jacques en Occitanie. Auch deshalb wurde es ein ganz besonderer Weg – ein Fußweg hinein nach Toulouse. Tipps zur Route gibt es hier.

Kurz vor Toulouse
Kurz vor Toulouse

Anreise nach Conques – ein langer Weg zum Anfang

Es war vermutlich die komplizierteste Anreise meines ganzen Camino.

Erst ging es mit dem neuen Direkt-ICE von Berlin nach Paris – für sich genommen schon eine kleine Reise. In Paris hatte ich eine HomeExchange-Nacht bei Géraldine im 15e Arrondissement, einem ehemals industriell geprägten Viertel rund um das alte Citroën-Werk, heute bürgerlich, gehobener Mittelstand. Kein romantisches Pariser Viertel – aber ein Ort Pariser Vorherrschaft Frankreichs.

Géraldine war eine großzügige Gastgeberin. Wir sprachen viel – über Lebenswege, Wendepunkte und Pferde, über Frankreich, Europa und ihre Herkunft. Sie outete sich beim Frühstück als Sarkozy-Anhängerin – ein Bekenntnis, das mir in meiner europäischen PolitBlase – also jenem oft akademisch geprägten, pro-europäischen Umfeld zwischen Berlin, Brüssel und Straßburg – selten begegnet. Géraldine hat armenische Wurzeln, sieht die politische Entwicklung Frankreichs mit Sorge – insbesondere das Erstarken rechter Kräfte, nicht ohne den üblichen Hinweis, dass die letzte zugewanderte Generation sich nicht anpassen wolle (was allerdings zwei Generationen her ist).

Am ersten Abend erlebte ich Paris von seiner Schaufensterseite. Der Eiffelturm, das Seine-Ufer – Touristenmassen aus aller Welt. Und doch: Am nächsten Tag kam die Stadt mir näher. Ich hörte den Gesang einer Sopranistin in einer katholischen Kirche – afrikanische Gemeindemitglieder und weißes Bürgertum unter einem Dach. Ich gab meinen Rucksack im Gare Austerlitz ab, streifte durch die Viertel – und ging sogar schwimmen. Ja, wirklich: In der Seine! Paris Plage hatte begonnen. Das Wasser war überraschend sauber, die Stimmung entspannt – ein kleines Sommerglück.

 

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Am Abend fuhr ich mit dem Nachtzug Intercités de Nuit von Paris Austerlitz nach Rodez. Wegen eines Polizeieinsatzes – ein möglicher Suizid auf der Strecke – blieben wir lange stehen. Im Liegewagen entstand trotzdem so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Die Klimaanlage war defekt, die übliche Klage gegen die Deutsche Bahn blieb aus – mit gleicher Leidenschaft ging es hier gegen die SNCF. In jedem Land glaubt man, man sei ein Opfer seines Systems, auch wenn man es selbst besitzt.

Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, kam ich dennoch pünktlich in Rodez an. Ich hatte noch zwei Stunden Zeit und stieg zur beeindruckenden Kathedrale hinauf – die allerdings vor acht Uhr noch geschlossen war – ein ernüchternder Moment nach dem mühsamen Aufstieg, der mich ankommen ließ, aber noch nicht einließ. Also trank ich mit den wenigen Menschen, die auf den Beinen waren, mehrere Espressi und wartete – wieder unten im Tal und nicht ohne Zweifel – auf den Bus.

Der Bus kam, sogar pünktlich. Zwei Euro für die Fahrt durch das Aveyron, nur mit einer älteren Dame: Serpentinen, Dörfer, grüne Hügel, leuchtendes Licht.

Conques liegt wirklich mitten in Frankreich – schwer erreichbar, aber einmal angekommen, scheint die Welt stillzustehen.

Ich hatte meine Bedenken, was ich den ganzen Tag dort tun würde. Aber in einem der schönsten Dörfer Frankreichs war das ein verwegener Gedanke.


Prolog: Conques – Nationalfeiertag, Klostermauern und ein stiller Zauber

Es war ein herrliches Wiedersehen mit den alten spirituellen Mauern.

Conques ist einer der wichtigsten Orte am Jakobsweg (Via Podiensis) – ein abgelegenes, mittelalterliches Dorf in der Region Aveyron, das sich rund um die imposante romanische Abteikirche Sainte-Foy gruppiert. Bereits im 9. Jahrhundert ließen sich Mönche hier nieder, um die Reliquien der heiligen Fides (Sainte Foy) aufzunehmen – einer frühchristlichen Märtyrerin, deren Kult seit Jahrhunderten Pilger aus ganz Europa anzieht. Das prächtige Kloster ist berühmt für das Tympanon des Jüngsten Gerichts und ihre Schatzkammer.

 

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Heute lebt in der Abtei eine kleine Gemeinschaft von Prämonstratenser-Mönchen – einem Orden, der im 12. Jahrhundert gegründet wurde und nach dem Vorbild des heiligen Augustinus lebt: gemeinschaftlich, schlicht, gastfreundlich. Die 7 Brüder feiern täglich das Stundengebet.

Conques hat einen intimen Zauber. Die Mühe der Anreise und die Geschichten derer, die zu Fuß aus dem Aubrac kommen, machen diesen Ort zu etwas Besonderem. Die Mönche sind offen und weltgewandt – ihre Präsenz still und stark.

Ich ließ meinen Rucksack im malerischen Innenhof der Herberge, nahm an der Liturgie teil, aß gut und bekam für 5 € eine exklusive Privattour durch den Ort außerhalb der Abtei von Anna, weil ich der einzige Teilnehmer war. Selten findet man ein Dorf, das fast vollständig aus der Zeit des Mittelalters erhalten ist. Spannend waren Annas Ausführungen zur Säkularisierung von Conques. Noch heute gibt es zwischen Bürgermeister und Abt Streitigkeiten.

Etwa 50 Pilger:innen kamen an diesem Tag in Conques an. Alles wird liebevoll durch Freiwillige organisiert. René, ein junggebliebener älterer Herr aus dem Rheintal in der Schweiz, zeigte mir den riesigen Schlafsaal, der sich langsam füllte – fast nur Franzosen, eine Niederländerin, ein Kanadier.

 

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Am Abend gab es ein gemeinsames Essen – genussvoll wie schon im Jahr zuvor. Aber nun war der Saal übervoll. Der Rotwein half meinem Französisch.

Anders als letztes Jahr blieb ich diesmal über Nacht. Ich genoss nach dem Pilgersegen, der von allen besucht wurde, noch ein Konzert auf der Empore, die ich während des östlichen Gesanges erwandern durfte. Der Mönch machte übrigens ausgerechnet am Nationalfeiertag eine spitze Bemerkung: Wahrer Patriotismus gelte Gott – und damit allen. Paris ist wirklich weit weg.

Mein Weg

Der beste Tipp für den Weg von Conques nach Toulouse ist es, die landschaftlich und kulturell reichste Route über Peyrusse-le-Roc, Villeneuve, Villefranche-de-Rouergue, Najac, Cordes-sur-Ciel und Gaillac zu wählen. Diese Variante der sogenannten „Liaison Conques–Toulouse“ verläuft über die französischen Fernwanderwege wie den GR®62B, GR®36 und GR®46 und ist überwiegend auch mit der Jakobsmuschel ausgeschildert. Die Wege sind nicht immer gut ausgeschildert. Regionale Wanderwege oder Wanderrastplätze gibt es kaum. Nach Unwettern kann es Wochen dauern, bis jemand umgestürzte Bäume entfernt. Der Weg ist recht abwechslungsreich, selten steil, führt aber auch durch tiefe Flusstäler, mittelalterliche Bastiden, entlang romanischen Kirchen und durch teils verwunschene Dörfer. Unterkünfte sind recht selten, aber oft  pilgerfreundlich und oft persönlich geführt – teils sogar auf Spendenbasis („donativo“). Auch bei sommerlicher Hitze eignet sich diese Variante gut, da viele Abschnitte im Schatten verlaufen und zahlreiche Wasserstellen sowie Kirchen zur Rast einladen, die allerdings nur zur Hälfte geöffnet sind. In den in Frankreich gut ausgestatteten Mairies und Tourismusbüros und in den Privatunterkünften erhält man Pilgerstempel. In den Kirchen, anders als in Deutschland, nie. Ich orientierte mich bei Unterkünften an der Seite von Les Amis des Chemins de Saint-Jacques en Occitanie. Auch die  l’Agence française des chemins de Compostelle informiert über den Weg. Nützlich ist auch SANTIAGOOO.

Tag 1: Conques – Cransac-le-Thermes

Ich hatte eine erstaunlich gute Nacht in der großen Pilgerunterkunft der Abtei von Conques – obwohl viele Menschen im Schlafsaal waren. Selbst eine Schnarcherin konnte mich nicht wirklich stören. Alles war übergut organisiert, von den Waschgelegenheiten bis zum ruhigen Innenhof. Nur Zeit für einen Kaffee blieb mir kaum, denn meine Wasserblase hatte wieder ein Leck. Also schnell noch zur Kirche: Laudes – Innehalten, Atmen, Losgehen. So vermied ich den Massenstart.

Meine erste Etappe 2025 begann unterhalb von Conques mit einem echten Pilger-Klassiker: der alten römischen Brücke über den Fluss. Danach wurde es sportlich – steiler Anstieg, der Körper musste gleich mitarbeiten. Die erste Rast machte ich an der kleinen Chapelle Sainte-Foy, eine eigentlich stille Station oberhalb des Tals. Nun umrandet von Pilger:innen. Saskia aus Hilversum machte Fotos.

 

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Die Landschaft erinnerte mich später fast an das westfälische Mittelgebirge: abgeerntete Felder, viele Waldstücke, leichte Serpentinen. Die Sonne blieb gnädig bewölkt. Ich traf unterwegs immer wieder bekannte Gesichter aus Conques – ein langsames Auseinandergehen nach dem Gemeinschaftsabend.

In Noailhac dann das Gegenteil von Stille: ein Café voller Pilgerinnen und Pilger, die sich um Pilgerstempel und Getränke drängten, Prenzlauer Berg. Später tauchte sogar eine rollende Kaffeebar am Wegrand auf – ein Fahrzeug, das sehr gezielt den Pilgerstrom abfängt. Ich bereute kurz, meine Espressomaschine eingepackt zu haben.

Hinter dem Puy de Fraysse kam dann die Gabelung, die meinen Weg bestimmte: hier bog ich ab auf den Chemin vers Toulouse. Ab diesem Moment wurde der Weg wieder einsamer, aber auch klarer markiert – als würde dieser Abschnitt noch auf seinen eigenen Pilgerstrom warten.

Was dann kam, kannte ich: Asphalt, lichte Wälder, ab und zu viele Abzweige. In Firmi lag eine gewisse Trostlosigkeit in der Luft – ein Ort, der vielleicht in den 1980ern lebendig war, jetzt aber nur noch von seiner Vergangenheit spricht.

Cransac-les-Thermes wirkte ähnlich, in der für den hässlichen Ort überdimensionierten Touristinfo holte ich mir meinen #tampondepèlerinage. Aber mein Ziel lag noch etwas versteckt: Ich musste die Bahnlinie überqueren und ein kleines, grünes Tal ansteuern – dort liegt die Gîte familiale de la Bastide du Puech.

Ich kam relativ früh an und wurde gleich herzlich empfangen. Ein älteres Paar aus Toulouse war da – wir sprachen lange, ruhig, neugierig. Und dann kamen Michel und Laurence Corail. Was dann folgte, war ein kleines Wunder der Gastfreundschaft.

Ich war der einzige Pilger, bekam eine großzügige Etage für mich allein. Das Abendessen – drei Gänge im Garten – war ein Fest: #BoudinGalabar (kölsche #Flöns !), Gemüse der Region, Hähnchen mit selbst gefundenen Pilzen, Käse, ein viel Wein. Michel, ehemaliger Chefkoch, stammt aus Mâcon – eine Stadt, die ich auch von meinem Camino kenne.

Nach dem Essen zeigte er mir ein Foto. Früher war das ganze Tal ein schmutziges Kohleabbaugebiet. Plötzlich erkannte ich etwas Vertrautes: Ich war hier in einer südfranzösischen Version von Ramsbeck im Sauerland = #berndscamino.

Mein Camino bringt mich immer wieder an Orte des Übergangs. Zwischen Natur und Industrie, Vergangenheit und Aufbruch, Kloster und Kohle. Und genau dort – zwischen den Zeitschichten Europas – komme ich weiter.

Tag 2: Cransac – Peyrusse-le-Roc

Ich hatte gut geschlafen bei Laurence und Michel Corail. Nach einem Kaffee im Garten ging es los – nicht zurück zum offiziellen Jakobsweg, sondern südlich durch einen schattigen Pfad nach Aubin. Dort: eine wunderschöne Mairie, eine Marienstatue auf einem Hügel mit Kirche und Burgruine – sonniger Blick über das Tal.

In Aubin überraschte mich eine breite Dorfstruktur, auch wenn vieles improvisiert wirkte. Ich kaufte Baguette und eine exzellente Salami bei der Boucherie Masar, dann ging es nach dem Ort an der Bahnlinie steil in den Wald. Der Weg war zwar ausgeschildert, aber kaum begangen – umgestürzte Bäume, kaum Wasserstellen, viel Sonne. Erst in Galgan gab es am Friedhof wieder Schatten, Frischwasser – und einen stillen Tagebuchmoment.

 

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In Peyrusse-le-Roc kam ich recht früh an. Der mittelalterliche Ort liegt eindrucksvoll auf einem Vorsprung. Es gibt Kunsthandwerk, die Ruinen der Unterstadt am Hang mit dem Roc del Talhuc, steinerne Wege, Eidechsen und Tagestouristen. Im einzigen Café wurde ich sofort in Gespräche verwickelt – die freundliche Besitzerin, ein deutsch-palästinensisches Paar aus Amsterdam. Es sollte die erste und letzte Deutsche meines Weges sein…

Meine Unterkunft lag nur wenige Schritte entfernt: Association Le Bastidou – ein Wiederaufbauprojekt am Rand des Dorfes. Seit vielen Jahren helfen dort Schüler:innen, Studierende und Ehrenamtliche, verlassene mittelalterliche Häuser Stein für Stein zu restaurieren. Alle waren übernett.

Steinmetzin Dominique aus Paris zeigte mir Werkzeuge, Mauern, Fundamente. Sie kam gerade vom Wiederaufbau von Notre Dame in Paris. Eigentlich sollte ich zelten, aber es wurde ein Bett in einem der neu aufgebauten Häuser frei. Die Jugendgruppe kochte für mich lecker marokkanisch. Viele Diskussionen zur Restaurierung alter Stätten. Ich war in meiner großen Etage nicht allein. Fledermäuse umflogen mein Bett. Hatte ich auch noch nicht…

Ich erwachte im Haus der Association Le Bastidou in Peyrusse-le-Roc – die Fledermäuse hatten sich zur Ruhe begeben, das ehrenamtliche Leben erwachte. Chantal, die treibende Kraft des Projekts, jongliert zwischen Denkmalpflege, Erasmusförderung und jugendlicher Energie. Mein Pilgerdasein verschmolz mit Steinmetzhandwerk, Schüler:innenchaos und europäischer Freiwilligenarbeit.

Tag 3: Peyrusse-le-Roc – Villeneuve

Ich erwachte im Haus der Association Le Bastidou in Peyrusse-le-Roc – die Fledermäuse hatten sich zur Ruhe begeben, das ehrenamtliche Leben erwachte. Chantal, die treibende Kraft des Projekts, jongliert zwischen Denkmalpflege, Erasmusförderung und jugendlicher Energie. Mein Pilgerdasein verschmolz mit Steinmetzhandwerk, Schülerchaos und europäischer Freiwilligenarbeit.

Dann ging es weiter – und heiß wurde es. Peyrusse-le-Roc ist wie ein okzitanisches Pompeji, in den Felsen gebettet, eine mittelalterliche Ruinenstadt mit Seele. Allein in der Morgensonne genoss ich diesen außergewöhnlichen Ort – der erste Moment echten Staunens auf diesem Camino. Die anschließende grüne Parklandschaft fand ihren Abschluss im privaten Gelände des Château de Marinesque, über das ich erstaunlich wenig herausfinden konnte.

Caselles, alte Bauernunterstände aus Stein, säumen dann im zweiten Teil meinen Weg. Allein auf schmalen Pfaden, unter Alleen und durch kleine Wälder. Kaum ein Mensch unterwegs, dafür umso mehr Eidechsen, Wind in den Blättern und glühende Sonne. Zum Glück spendeten die Baumkronen Schatten. Wasser blieb Mangelware, doch die Landschaft entschädigte.

Je näher ich Villeneuve kam, desto klarer: Hier steckt Leben. Gut erhaltene Häuser, etwas Wohlstand, ein Ort, der sich behauptet. Der Altstadtkern ist nicht groß, aber voller Charme. Und ja: endlich eine offene, freundliche Kirche. Ein Mittelalterfest ist für die kommenden Tage geplant – aber ich bin zu früh. Ich bin ja auch zum Gehen hier, nicht zum Feiern.

Meine Gastgeber in Villeneuve – Evelyne und Jean Claude – nehmen gerne Pilger auf, auch wenn sie mit dem Jakobsweg wenig zu tun haben. Herzlich, bodenständig, ganz lokal. Wir sprachen über den „chemeng“ (Chemin) und „veng“ (Vin) – okzitanische Sprachfärbung, contra Pariser Zentralismus. Der Camino bringt auch gesellschaftlich zum Nachdenken. Meine bescheidene Probegrabung durch Frankreich von Schengen bis hier lässt mich zunehmend fragen, wie lange das zentralistische System der Fünften Republik noch trägt. Noch zahlt Paris für Infrastruktur, aber der Abstand zur Realität ist spürbar.

Zum Abschluss: ein Salat im Restaurant Les Arcades, Blick auf die schöne Mairie mit okzitanischer, französischer und europäischer Fahne. Passt alles. Mein Körper macht mit, mein Geist auch. Wenn schon Paris weit weg ist – Berlin ist es erst recht. Morgen noch ein kurzer Wandertag – dann zweimal 30 km. Flusstäler warten. Badehose dabei.

Tag 4: Villeneuve – Villefranche-de-Rouergue

Bei meinen tollen Gastgebern – ich nahm nur noch einen Kaffee – verabschiedete ich mich von Evelyne und Jean Claude mit einem Selfie. Ich entschied mich, nicht zurück nach Villeneuve zu gehen, um auf den offiziellen Weg zu stoßen, sondern quasi „querfeldein“ zu laufen. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Ein herrlicher Wanderpfad verband viele der kleinen steinernen Unterstände – die caselle. Eine richtige Route der caselle durchzieht diese Landschaft, eingebettet in eine gepflegte Parklandschaft. Bei Toulongergues traf ich wieder auf den Jakobsweg – mit der beeindruckenden Hallenkapelle Église de Toulongergues (leider geschlossen).

Nach kurzem Verlaufen kam ich nach Saint-Rémy – ein wunderschön restaurierter und offensichtlich reicher Ort mit einer bemerkenswert ausgestatteten Mairie. Paris sorgt überall für die Provinz – und kontrolliert zugleich. Danach wurde es urbaner und verkehrsreicher. Die Église Saint-Jean-Baptiste in  Veuzac war überraschend offen.

 

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Villefranche-de-Rouergue schließlich ist ein Musterbeispiel einer „bastida“, einer mittelalterlichen Planstadt des 13. Jahrhunderts. Klare Raster, zentraler Platz, Handels- und Ordnungssinn. Auch Villeneuve war so eine Bastide, aber Villefranche ist größer, strategischer, in einem fruchtbaren Tal zwischen Aquitanien und Mittelmeer.

Ich kaufte im Carrefour ein, machte Picknick auf der Place Notre-Dame – ein Platz wie in Italien. Ich bin endgültig im Süden angekommen.

Meine Gîte d’étape de la Gasse liegt etwas außerhalb der Stadt, direkt am trägen, grün verschlickten Aveyron. Ein Wanderverein betreibt sie. Die älteren Vereinsmitglieder kamen extra mit dem Schlüssel. Ich hatte ein Sechsbettzimmer mit Bad für mich allein. Keine Pilger mehr weit und breit. Eine freundliche Familie aus Nizza war auch da – nicht am Wandern interessiert, aber offen für eine günstige Unterkunft. Auch ungewöhnliche Begegnungen ist Pilgern.

Am Nachmittag besuchte ich die Chartreuse Saint-Sauveur, ein Kartäuserkloster aus dem 15. Jahrhundert mit dem größten Kreuzgang Frankreichs. Einzelzellen um einen Garten, Stille und Spiritualität. Ein Ort des Schweigens – lohnenswert. Anders als Cluny blieb die Anlage weitgehend von der Revolution verschont.

Abends lokales Bier im „Atmosphère“ mit Musik von „L’E.K. Blues“. Villefranche ist genau richtig: charmant, unaufgeregt alternativ, mit viel Sinn fürs Mögliche.

Tag 5: Villefranche-de-Rouergue – Najac

Ich hatte eine seltsame Nacht hinter mir. Als ich von der Bar mit dem Blues-Konzert zurückkam, wollte ich eigentlich nur ins Bett – doch meine Nachbarn hatten die Küche abgeschlossen. Durch diese gelangte man in mein Zimmer. Akku leer, ehrenamtliche Betreuerinnen der Gîte nicht erreichbar. Durchs offene Fenster konnte ich mit einem Besenstiel Isomatte und Netzstecker angeln, über die geöffnete Tür ihres Zimmers zumindest mein Handy laden. Ich stellte mich auf eine Nacht draußen vor der Gîte ein.

Irgendwann kam die Familie zurück. Die Szene: Die Mutter warf dem Vater vor, abgeschlossen zu haben. Der Vater wies alles von sich – und behauptete dann, den Schlüssel „auf dem Parkplatz gefunden“ zu haben. Nice try. Die Familie kam aus der Banlieue von Nizza und war froh über die günstige Unterkunft. Stolz der von der Mehrheitsgesellschaft vernachlässigten Unterschicht traf auf mein Mittelschichtverständnis… irgendwie passte ich nicht zur anderen Realität Frankreichs…

Erleichtert über den Schlüssel schlief ich gut. Morgens: Kaffee, Regen abwarten – dann Aufbruch. Zunächst durch die Vororte von Villefranche-de-Rouergue, später schlecht ausgeschildert durch Hügel und Felder. Wäre nicht die Landschaft mit den Caselles gewesen – es wäre ein eher unspektakulärer Abschnitt gewesen. Das Wetter blieb bedeckt – angenehm. Kaum Wasser nötig.

 

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In Monteils überraschte mich ein großes Dominikanerinnenkloster, das auf keiner Liste stand. Ich bin sicher, es nimmt normalerweise Pilger auf. Danach: letzter Supermarkt vor Najac. Anschließend steil bergauf, schmale Wanderwege.

Ich sah keine Pilger. Zwei Wanderer, zwei Jogger. Später wurde die Landschaft gebirgiger, der Fluss formte einen kleinen Canyon. Eine verlassene Raststelle – dort aß ich Käse, Salami und Baguette. Kein Handyempfang, völlige Stille. Dann die Eisenbahnbrücke: Der Aveyron musste überquert werden – Dornen, Schlingpflanzen, mühsam. Schließlich ein alpiner Pfad hinauf nach Najac.

Wie oft beim Pilgern: zäher Aufstieg – und dann plötzlich: eine Perle. Najac liegt spektakulär auf einem schmalen Bergrücken über dem Tal – ein Bilderbuchdorf für Tagestourist:innen. Die Gasse schlängelt sich durch mittelalterliche Häuser bis zur Festung. Eine königliche Bastide des 13. Jahrhunderts – Wehrhaftigkeit trifft auf Charme. Auch die Église Saint-Jean trägt diese Mischung in sich – Wehrbau und Glaubensort. Der Blick ins Tal: still, grün, ein Höhepunkt.

Najac ist fast ein Museum. Aber es lebt noch. Cafés, Musik, Handwerk. Ich war unten am Fluss auf dem Campingplatz Le Païsserou untergebracht – ruhig, einfach, grün. Ein kleines Häuschen – geteilt mit einer anderen Pilgerin. Offenbar ist es „Laura“, von der mir mehrere Gastgeber:innen bereits erzählt hatten. Ich habe sie wohl eingeholt. Der Fluss: träge, kühl, perfekt für eine Pause mit den Füßen im Wasser. Wir verabredeten uns zum Abendessen im L’insolite.  Très sympa!

Najac: lebendig und doch bei sich. Früh schlafen. Morgen: noch ein Highlight des Tagestourismus: Cordes-sur-Ciel.

Tag 6: Najac – Cordes-sur-Ciel

Die offensichtlich einzigen Pilger auf dieser Route trafen sich also auf dem Campingplatz Le Païsserou in Najac – ein ruhiger, stilvoller Ort mit einfachen Bungalows und einem recht großen Freibad. Laura wollte nur bis Laguépie laufen. Wir beschlossen, den Vormittag gemeinsam zu gehen – und das war eine gute Entscheidung: Der gemeinsame Weg entlang des engen, schattigen Tals des Aveyron war schlichtweg traumhaft. Mit Laura, die aus Toulouse stammt, kamen ganz nebenbei spannende Gespräche zustande – über okzitanische Sprache, regionale Identitäten in Okzitanien, über Gastgeber:innen und Geheimtipps für Toulouse. Seit Conques waren wir oft bei denselben Menschen untergebracht – das schuf Nähe, Dankbarkeit, aber auch Anlass für augenzwinkernde Lästereien über unsere bisherigen Gastgeber.

Dann erreichten wir Laguépie, idyllisch gelegen am Zusammenfluss von Viaur und Aveyron. Ein echter Geheimtipp für heiße Tage, mit einer tollen kosmopoliten Bar du Viaour. Unterhalb der mittelalterlichen Burg gibt es eine öffentliche Badestelle mit Sandstrand – großzügig, angenehm und überraschend wenig überlaufen. Kein Wunder, dass die Toulouser:innen hier gern ihre Wochenenden verbringen. Die restaurierte Burg thront über dem Tal und erinnert an die strategische Bedeutung Laguépies in der historischen Grenzregion zwischen Quercy und Rouergue. Nur der Pilgerstempel fehlte – war halt Sonntag.

Nach einem gemeinsamen Picknick trennten sich unsere Wege herzlich. Ich ging allein weiter durch hügeliges Land. Die Hitze war erträglich – dank Schleierwolken, Schatten und gelegentlicher Brisen.

 

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Und dann erschien Cordes-sur-Ciel am Horizont – wie ein Bild aus einem historischen Film. Der Aufstieg war durch die mittelalterlichen Gassen nach dem langen Weg anstrengend. Hoch über dem Tal gelegen, ist Cordes ein anderes Kaliber als die bisherigen Bastiden. Es lebt vom Tourismus, ja – aber nicht platt, sondern durchaus auf höherem Niveau. Der Pilgerstempel war einer der schönsten bislang – erhältlich im Office de Tourisme. Zwischen Münchner Chic und Berliner Kollwitzplatz-Flair ist alles vertreten, was sich an Kunst, Stil und Wein interessiert zeigt. Wahrscheinlich liegt das auch an der Nähe zu Toulouse.

Ich war ganz allein in meiner Unterkunft: L’Escuelle des Chevaliers, ein gotisches Haus mitten in der Altstadt.

Abends saß ich im Szenecafé Fétiche – das ist nun wirklich Prenzlauer Berg auf okzitanisch. In der mittelalterlichen offenen Markthalle gegenüber organisierte der Besitzer ein Badminton-Tournier. Kein Scherz. Coole Menschen, Kunstpostkarten, Livemusik. Ich trank ein kühles lokales Bier – in Frankreich keine Selbstverständlichkeit, aber inzwischen eine stilvolle Alternative zum Wein, besonders bei den Jüngeren. Cordes lebt von seinen Gegensätzen – und ist dabei ganz bei sich.

Tag 7: Cordes-sur-Ciel – Cahuzac-sur-Vère

Cordes-sur-Ciel war mein bislang edelstes Quartier: Untergebracht in einem Hotel, das deutlich gehobener war als das, was Pilger:innen sonst buchen – aber es gab schlicht keine Alternativen. Ich war der einzige Gast. Die Besitzerin Claude war überaus freundlich, fast erleichtert, dass ich Französisch sprach. Mein Zimmer: ein ritterlich eingerichteter Raum mit Himmelbett und viel liebevollem Historismus – kurz vor Kitsch, aber geschmackvoll gemacht. Das Hotel war in einem alten russischen Gemeindesaal untergebracht – und trotz der Leere voller Geschichten.

Am Montagmorgen war Cordes wie ausgestorben. Claude servierte mir ein riesiges Frühstück – ich nahm nur einen Kaffee und stellte mir stattdessen ein Lunchpaket zusammen. Ihr Mann war früher hohes Tier beim Militär und hat sich mit der Pension den Besitz gekauft. Claude erzählte mir, wie sehr sich seit der Pandemie alles verändert habe: Kaum noch Gäste, kaum noch länger bleibende Kundschaft. Die Geschäftsmodelle seien verschwunden, viele Betriebe kämpfen.

Ich schlief fantastisch – so tief, dass ich nicht einmal das nächtliche Gewitter hörte. Morgens hingen noch graue Wolken über Cordes, aber die Luft war frisch. Ich verließ den Ort direkt hinter dem Hotel, vorbei am ehemaligen Kapuzinerkloster. Der Weg war kaum markiert, oft zugewachsen, Dornen griffen nach den Beinen – kein leichter Einstieg.

Was dann kam, wirkte vertraut: eine kleine Anhöhe, ein stillgelegter Bahndamm, eine verwunschene Kirche namens Saint-André – mitten im Nirgendwo. Dort machte ich Mittagsrast mit meinem selbstgebauten Lunchpaket. Und pünktlich zur Pause kam die Sonne zurück.

Nach Amarens begannen die ersten Weinberge – der erste große Landschaftswechsel seit Tagen. Ich bin endgültig im Département Tarn angekommen. Die Route wurde nicht besser markiert, aber schöner. Der Weg nach Cahuzac-sur-Vère war weiter schlecht ausgeschildert – keine Muschel, kein Pfeil. Erst im Ort selbst stand ein großes Schild: offenbar ein Ergebnis irgendeines Tourismusförderprojekts. Immerhin fand ich in der Mairie meinen heißgeliebten Pilgerstempel.

 

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Meine Unterkunft bei Au Mas de Janita südlich des Ortes war ein kleines Paradies. Janita und Serge begrüßten mich herzlich. Ich bekam ein kühles lokales Bier – direkt am herrlich gelegenen Pool. Die Sonne war zurück, das kühlere Wanderwetter hatte sich verabschiedet. Ich drehte ein paar Runden im Wasser – Erholung pur.

Am Abend gab es ein feines table d’hôte, serviert auf der Terrasse mit Blick ins Grüne: viel Gemüse aus dem eigenen Garten, lokaler Käse, ein Glas Vin de Gaillac – und spannende Gespräche. Serge stammt aus der Region Nizza, Janita aus den Niederlanden. Sie haben den Hof von Briten übernommen, die nach dem Brexit zurück in die Insel-Heimat gingen.

Besonders auffällig hier: die typischen pigeonniers, diese eigentümlichen runden Taubenhäuser, die in der Landschaft verstreut stehen – Relikte einer anderen Zeit, wie stille Wachtposten über den Reben.

Tag 8: Cahuzac-sur-Vère – Gaillac

Ich trank morgens einen sehr guten Kaffee im Garten – und wieder waren meine Gastgeber Serge und Janita überaus freundlich. Serge erklärte mir ausführlich die Pigeonniers: Diese kleinen Taubentürme dienten nicht nur der Zucht von Taubenfleisch, sondern vor allem der Gewinnung von wertvollem Dünger – Taubenkot! Zugleich waren sie Statussymbole: Nur Großgrundbesitzer und Adelige durften sie errichten. Das Haus von Janita und Serge wurde sogar um einen solchen Turm herumgebaut.

Serge zeigte mir noch stolz seinen Garten und eine Abkürzung zurück zum Jakobsweg – und die war wirklich gut. Immer wenn ich durch Weinberge laufe, denke ich an die Toskana. Aber heute, bei bestem Wetter, war das Gefühl besonders stark: sanfte Hügel, Zypressen, steile Pfade – mediterranes Licht, okzitanischer Duft.

 

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Besonders schön und reich wirkte der kleine Ort Broze. Ich musste lachen: Für knapp 100 Einwohner:innen gibt es hier eine eigene Mairie. Seit Cahuzac-sur-Vère ist der Weg übrigens wieder ordentlich mit den Jakobsmuscheln ausgeschildert – das tat gut.

Der Tag wurde heiß, aber mein Wassermanagement funktionierte einigermaßen – auch dank einer Trinkwasserstelle in Broze. Es waren insgesamt nur wenige Kilometer, und so war ich schon früh in Gaillac. Die Vorstadt rund um den Bahnhof ist langweilig und sehr städtisch – aber die Altstadt enttäuschte mich ebenfalls: hübsch, aber klein. Ich beschloss, einfach mal nichts zu tun.

Bei Anne war ich pünktlich um 16 Uhr. Eine beeindruckende Frau: hohes Alter, wacher Geist, ein Händchen für Ästhetik – ihr skandinavisch gestaltetes Holzhaus war eine Oase der Ruhe. Ich bekam für ein Donativo ein ehemaliges Kinderzimmer. Da sie abends einen Termin hatte, überließ sie mir das ganze Haus.

Ich ging nochmal in die Altstadt, doch leider war sowohl die Abteikirche als auch das Museum geschlossen. Ich streifte etwas lustlos umher – bis sich gegen 18 Uhr die Place du Griffoul mit Menschen füllte: Rund um den alternativen Bauernmarkt entstand eine lebendige Atmosphäre. Trotz des reichen Weingebiets wirkt Gaillac nicht sonderlich wohlhabend.

Im authentischen „Rouge Gorge“ ließ ich mich nieder, beobachtete das Treiben und genoss die Langsamkeit des Ortes. Zurück in Annes Bungalow begann ich damit, alte Ausrüstung auszusortieren – zu viele Jahre in Benutzung. Als Erstes musste meine Wasserblase dran glauben: Adieu, leckender Plastikschlauch!

Tag 9: Gaillac – Rabastens

Ich war froh, dass Anne am Morgen mit mir gemeinsam aufstand – ich wollte früh los, denn für den Tag war Gewitter angesagt. Beim Kaffee entwickelte sich ein intensives Gespräch. Anne erzählte aus ihrem Leben: Überzeugte 68erin, ein Leben ohne klassische Familie, geprägt von Reisen, Landwirtschaft und einem starken Freiheitsdrang. Skepsis gegenüber dem Bürgerlich-Konservativen war für sie bis heute prägend.

Besonders bewegend war ihre Geschichte über einen Schüleraustausch in die DDR: In den späten 1950er Jahren, als Tochter eines französischen Kommunisten, verbrachte sie einige Zeit in Wittenberge – ein seltenes Kapitel europäischer Alltagsgeschichte. Wir sprachen auch über das Dilemma vieler Linker heute, sich klar gegenüber autoritären Gefahren aus Moskau abzugrenzen. Es war ein Gespräch mit Tiefgang – ein typischer #berndscamino-Moment. Anne bedauerte sehr, dass sie den Camino nicht mehr selbst gehen kann.

 

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Nach einer herzlichen Verabschiedung machte ich mich auf den Weg – am Fluss Tarn entlang Richtung Rabastens. Die Sonne blieb hinter grauen Schleiern verborgen, es war drückend und feucht. Ich entschied mich, nicht den offiziellen, teils absurden Umwegen des Jakobswegs durch die Weinberge zu folgen, sondern ruhigere Landstraßen zu nehmen. Ehrlich gesagt: Es war die tristeste Strecke meiner bisherigen Tour.

Doch kurz vor dem großen Regen kam die Wende. Ich traf Pilou und Géraldine, meine Gastgeber in Rabastens – und plötzlich hatte der Tag wieder Seele. Pilou nahm sich viel Zeit, führte mich durch den Ort, den er kennt wie kaum jemand sonst. Er ist tief verwurzelt in der katholischen Gemeinde, begrüßt jeden mit Namen. Seit vielen Generationen besitzt seine Familie den alten Getreidespeicher neben dem Hôtel de Rolland – ein besonderes Gebäude mit vielen liebevoll ausgebauten Etagen. Mein Pilgerzimmer dort war fantastisch.

In der Kirche Saint-Sulpice zeigte mir Pilou alle Pilgerspuren: Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert, Darstellungen des heiligen Jakobus – und gotische Baukunst in südfranzösischer Schlichtheit. Kein Zweifel: Ich war nicht der erste Pilger hier. Rabastens war im Mittelalter ein bedeutender Ort auf der Via Tolosana. Direkt neben der Kirche liegt das feine Musée du Pays Rabastinois – mit regionaler Geschichte, Kunst und Kultur.

Pilou möchte Rabastens wieder stärker als Pilgerort beleben. Beim gemeinsamen Abendessen sprachen wir über Ideen, Möglichkeiten, neuer Hoffnung nach überstandener Krankheit, Herausforderungen – und ich lernte einiges über Weinbau und das Leben im Tarn-Tal. Der Tag, der so grau begonnen hatte, wurde noch hell. Auf eine leise, südwestfranzösische Art.

Tag 10: Rabastens – Montastruc-la-Conseillère

Auch der Morgenkaffee mit Pilou war ein Gewinn. Wir verabschiedeten uns herzlich – und ich brach auf in Richtung Montastruc-la-Conseillère. Der Tag begann grau, die Anhöhen über dem Tarn lagen im Nebel, und die sonst so weite Sicht auf Rabastens blieb verborgen. Doch mit jedem Schritt wurde das Wetter besser – und bald auch die Landschaft eindrucksvoller.

Die abwechslungsreiche Umgebung begleitete mich mit leichtem Wind und angenehmer Temperatur. Später jedoch führte der Weg zunehmend über schlecht ausgeschilderte Straßen. Die offizielle Streckenführung war unklar, Pausenplätze kaum vorhanden. Etwa auf halber Strecke erreichte ich Saint-Sulpice-la-Pointe – eine größere Bastide mit guter Infrastruktur. Anders als Rabastens ist sie deutlich städtischer, geordneter – und wirkt auch wirtschaftlich gefestigt.

Nach Saint-Sulpice veränderte sich die Landschaft deutlich: sanfte Hügellandschaft, Autobahnkreuzungen, Vorortsiedlungen. Die Nähe zur Metropole Toulouse wurde spürbar. Die Wegmarkierungen blieben schlecht, dafür tauchten immer mehr prächtige pigeonniers auf – die alten Taubentürme der okzitanischen Landwirtschaft. Besonders ab Roquesérière fiel der zunehmende Wohlstand ins Auge: moderne Häuser, gepflegte Gärten, neue Infrastrukturen. Viele pendeln offenbar täglich ins wirtschaftlich starke Toulouse.

 

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Am frühen Nachmittag erreichte ich Montastruc-la-Conseillère. Die letzten Kilometer führten steil in den Ortskern. Robert, mein Gastgeber, kam mir schon auf halbem Weg zu Fuß entgegen. Später begrüßte auch Catherine mich herzlich – und ich fühlte mich sofort willkommen. Ihre Tochter und das kleine Enkelkind waren zu Besuch aus Paris. Die beiden betreiben ihr großes Haus mit viel Hingabe. Es war einst ein kleines Landhotel, heute beherbergt es Pilger:innen – bis zu 60 pro Jahr. Sogar ein Yogaraum steht zur Verfügung.

Ich hatte ein eigenes Zimmer, stilvoll und ruhig. Beim Abendessen sprachen wir lange, ganz auf Französisch – mit Humor, Tiefgang und vielen Rückfragen. Auch hier war ich der erste Deutsche. Man merkte: Das Haus ist auf den Camino ausgerichtet – aber auch tief in der Region verwurzelt. Montastruc hat eine belebte Kirche, eine schöne Mairie und erstaunlich viele Angebote für Jugendliche.

Ich ging früh schlafen. Morgen ist der letzte Tag. Es geht nach Toulouse.

Tag 11 (Jakobustag):  Montastruc-la-Conseillère – Toulouse

Letzter Wandertag. Letzter Kaffee mit meinen wunderbaren Gastgeber:innen. Noch ein Abschiedsselfie mit der ganzen Familie – inklusive Catherine und Robert mit ihren ikonischen Brillen 🕶️, die mich in dieser Region immer wieder zum Schmunzeln brachten.

Robert bestand darauf, mich die ersten fünf Kilometer zu begleiten. Es war ein großartiger Auftakt: Wir sprachen über die Geschichte der Gegend, seine Militärzeit in Rastatt in den 1970ern, über französische Heimatverbundenheit und deutsch-französische Versöhnung. Wie oft habe ich auf diesem Weg erfahren, wie offen und wohlwollend viele Französ:innen mit Deutschland umgehen – trotz der Erinnerungen an die Gräuel des Krieges.

Kurz darauf kam ich durch den Wald von Reulle – ein stiller Hain, der mich unerwartet innehalten ließ. Hier, am 7. Juli 1944, erschoss die SS dreizehn Kämpfer der Résistance. Einer von ihnen: Charles de Hepcée aus Ixelles, Brüssel – jener Stadtteil, in dem ich selbst zwei Jahre lebte. Drei Gedenktafeln stehen dort. Die älteste spricht von „den Deutschen“, eine spätere von „den Nazis“, die jüngste nur noch vom „Feind“. Erinnerung verändert sich. Und sie bleibt.

 

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Vielleicht war ich noch zu bewegt. Vielleicht war es ein Navigationsfehler. Jedenfalls geriet ich danach an der Route de Lavalette in ein Dickicht aus dornigem Unterholz, aus dem mich nur das GPS retten konnte. Kratzer an Armen und Beinen inklusive. Ich fluchte. Komoot, der Camino, das französische Wegeamt – alle waren schuld. Nur ich natürlich nicht.

Doch dann entkam ich der grünen Hölle und ging querfeldein zur nächsten Landstraße. Dann überall Vororte… Joggingpfade, Golfplätze, Spielplätze. Die Region rund um Toulouse ist dicht, wohlhabend, weitläufig. Noch einmal wurde ich gestoppt: ein Bahnübergang ohne Übergang, ein zugewucherter Weg. Nur ein Loch im SNCF-Zaun brachte mich schließlich weiter. Komoot hat am letzen Tag viele Fehler.

Und dann – endlich – Toulouse. Die roten Ziegel, die Metrolinien, das Licht: Ich war in der Hauptstadt Okzitaniens angekommen. Und da stand sie vor mir: die Basilique Saint-Sernin.

Ich trat ein, setzte mich in den Chorraum – und atmete tief durch. Pilgergefühl. Ruhe. Dankbarkeit.

Das Pilgerbüro war geöffnet. Ein kurzer Austausch, ein Schwatz, ein Lächeln, ein Stempel.

2611 Kilometer seit Berlin. Ziel erreicht.

Und das ausgerechnet am 25. Juli – dem Jakobustag. Symbolischer geht es kaum.

Am Abend ließ ich den Camino still ausklingen. Ich traf mich mit Laura, meine einzige Pilgerfreundin vom Weg. Wir aßen „Coquilles Saint-Jacques“ – zum ersten Mal für mich. Am Jakobustag. Passender hätte es nicht sein können.

Toulouse ist ein wunderbarer Pilgerort. Wie Trier. Wie Le Puy. Wie Conques.

Ich komme wieder… 2026.

 

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