Spiegelt das Misfit-Modell zur EuropÀisierung die europÀische Wirklichkeit wider?

Europeanization [
] has produced more questions than answers.[1]

EuropĂ€isierung ist ein Forschungsfeld, das von einer Vielzahl unterschiedlicher Meinungen, Ideen und AnsĂ€tzen geprĂ€gt ist, die sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Bereits bei dem Versuch einer Definition gibt es verschiedenste VorschlĂ€ge und je nach Interpretation in Folge dessen auch verschiedenste ErklĂ€rungsmuster. Ein Klassiker unter den EuropĂ€isierungsmodellen ist der Goodness of fit Ansatz (auch Misfit-Modell), der auf Risse/Cowles/Caporaso 2001 und Börzel/Risse 2003 zurĂŒckgeht. Dieser besagt, dass EuropĂ€isierung nur entsteht, wenn eine InkompatibilitĂ€t zwischen nationaler und EU-Ebene vorliegt, was dann zu einem Anpassungsdruck fĂŒhrt und nationalen Wandel ermöglicht. In dieser Arbeit soll nun die Frage geklĂ€rt werden, ob das Misfit-Modell die europĂ€ische Wirklichkeit widerspiegelt, oder ob die Praxis der EuropĂ€ischen Union nicht von ganz anderen Faktoren bestimmt wird. Dabei wird insbesondere das Dilemma zwischen einer top-down- oder einer bottom-up-Perspektive thematisiert.

ZunĂ€chst ist es sinnvoll den Begriff EuropĂ€isierung im Kontext des gewĂ€hlten Themas zu definieren. Hier erscheint mir die Definition von Radaelli die Passendste zu sein, nachdem diese neben der Entstehung europĂ€ischer Politik auch deren RĂŒckwirkung auf die Nationalstaaten umfasst, was auch das Misfit-Modell beschreibt. Nach Radaelli bezeichnet EuropĂ€isierung:

Processes of (a) construction, (b) diffusion, and (c) institutionalization of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, ways of doing things, and shared beliefs and norms which are first defined and consolidated in the making of EU public policy and politics and then incorporated in the logic of domestic discourse, identities, political structures, and public policies.[2]

Weiterhin ist es fĂŒr das VerstĂ€ndnis der folgenden Argumentation wichtig, zwischen vertikalen und horizontalen Impulsen der EuropĂ€isierung zu unterscheiden.[3] Bei vertikalen Impulsen wird eine top-down-Perspektive eingenommen, da die EU hier klare Vorgaben macht, die von den Mitgliedsstaaten implementiert werden mĂŒssen. Hier spricht man von positiver Integration. Horizontale Impulse dagegen gibt es beispielsweise in Politikbereichen, in denen die EU keine Gesetzgebungskompetenzen hat. Hier handelt es sich eher um nicht verbindliche Regelungen oder politische ErklĂ€rungen. Diesen Vorgang bezeichnet Radaelli mit dem Begriff negative Integration.

Die Hauptaussage des Goodness of fit Ansatzes wurde bereits zu Beginn erwĂ€hnt, nun soll das Konzept genauer erlĂ€utert werden. Ein Misfit zwischen nationalstaatlicher und EU-Ebene ist hier der zentrale Impuls fĂŒr einen möglichen Wandel in den Nationalstaaten. Die InkompatibilitĂ€t, die entsteht, wenn europĂ€ische Vorgaben nicht einfach nahtlos eingefĂŒgt werden können, sorgt fĂŒr einen Anpassungsdruck. Je weniger kompatibel die nationalen VerhĂ€ltnisse mit den europĂ€ischen Vorgaben sind, desto grĂ¶ĂŸer ist der Misfit und in Folge dessen der Anpassungsdruck und damit die Notwenigkeit fĂŒr EuropĂ€isierung. Dennoch weisen Börzel/Risse darauf hin, dass Misfit nur eine notwenige Bedingung fĂŒr EuropĂ€isierung sei, es aber weitere Faktoren gĂ€be, die innerstaatlichen Wandel begĂŒnstigen und erschweren könnten.[4] Hierbei orientieren sich die Autoren in ihrer Argumentation an zwei Schulen des Institutionalimus, der rationalistischen und der soziologischen. Der rationalistische Institutionalismus argumentiert mit der Rational-Choice-Theorie und stellt die Ressourcenumverteilung in den Vordergrund. Hierbei ergeben sich zwei mögliche Szenarios: WĂ€hrend multiple Vetospieler gegen den Anpassungsdruck mobilisieren können, können umgekehrt unterstĂŒtzende Institutionen den Wandel positiv beeinflussen. Die Ausgestaltung dieser beiden Faktoren beeinflusst also den EuropĂ€isierungsprozess. Der soziologische Institutionalismus dagegen argumentiert mit Sozialisations- und Lernprozessen. Hier werden zum einen change agents genannt, die eine Neuauslegung der Interessen und IdentitĂ€ten anstreben. Zum anderen wird auf die politische Kultur und andere informelle Institutionen verwiesen, die zur Konsensbildung beitragen können. Soweit die Darstellung des Goodness of fit Ansatzes, der in sich logisch durchdacht zu sein scheint. Dennoch scheint mir die Anwendung auf die politische Praxis der EuropĂ€ischen Union mehr als problematisch zu sein. ZunĂ€chst ist, meiner Meinung nach, die beschriebene KausalitĂ€t zwischen Misfit und dem daraus resultierenden Anpassungsdruck zu sehr konstruiert. Es gibt keine generelle InkompatibilitĂ€t oder KompatibilitĂ€t. Letztendlich ist das immer Interpretationssache der Akteure und hĂ€ngt schließlich doch auch von der jeweiligen politischen Ausrichtung der sich an der Macht befindenden Regierung ab. FĂŒr die große Koalition, die derzeit gerade ihre Arbeit aufgenommen hat, ist Europa ein schwieriges Thema, sind sich doch Union und SPD wenig einig bei zentralen Themen wie der Bankenrettung oder der Asyl- und Migrationspolitik. Insbesondere bei letzterem Thema wĂŒrde es, denke ich, sehr unterschiedliche Interpretationen ĂŒber einen möglichen Misfit geben, nachdem beispielsweise die CSU eine sehr strikte Haltung gegenĂŒber einer Reform der Asylpolitik vertritt, die mit einer Mehraufnahme von FlĂŒchtlingen in Deutschland verbunden wĂ€re. Diese Argumentation wird in Ă€hnlicher Form auch von Radaelli bestĂ€tigt, indem er darauf hinweist, dass Misfit gewissermaßen immer sozialkonstruiert sei und daher wenig objektiv sei.[5] Als Klassiker unter den EuropĂ€isierungstheorien haben sich zahlreiche Autoren mit dem Misfit-Modell auseinandergesetzt. Der vielleicht hĂ€ufigste Kritikpunkt dabei ist dessen eingeschrĂ€nkte Anwendbarkeit (siehe u.a. Radaelli 2003, Radaelli 2004, Beichelt 2009). Das Modell setzt klare Vorgaben der europĂ€ischen Ebene voraus, an die sich die nationalstaatliche Ebene bei InkompatibilitĂ€t anpassen muss. Es handelt sich also um den Bereich der positiven Integration. Was geschieht aber im Bereich der negativen Integration? Was passiert, wenn es keine klaren Vorgaben gibt, sondern nur unverbindliche Richtlinien? So kann das Modell beispielsweise nicht erklĂ€ren, dass es in diesen Bereichen dennoch zu EuropĂ€isierung und Wandel in Nationalstaaten auf freiwilliger Basis, ohne vorherrschenden Druck, kommen kann. Der Wandel entsteht hier aus dem Willen und der Möglichkeit der nationalen Regierungen heraus etwas zu verĂ€ndern und sich den europĂ€ischen Vorgaben anzupassen. Als Beispiel wird hier in der Literatur hĂ€ufig die Liberalisierung im Telekommunikationssektor angefĂŒhrt, wo es ohne DruckausĂŒbung von Seiten der EU zu einer weitreichenden Liberalisierung, beispielsweise in Deutschland kam (Radaelli 2003, Börzel 2006). So kann dem Goodness of fit Ansatz widersprochen werden, nachdem Anpassungsdruck nicht immer eine notwendige Voraussetzung fĂŒr Wandel ist. Nun möchte ich zu der, meines Erachtens, grĂ¶ĂŸten SchwĂ€che des Modells kommen. In seiner Analyse stellt Timm Beichelt zu Recht in Frage, ob eine so strikte Trennung von nationalstaatlicher und EU-Ebene, wie sie das Modell vorsieht, ĂŒberhaupt möglich ist.[6] Denn EU-Politik kommt ja nicht aus dem Nichts, sondern ist das Produkt von Verhandlungen. Beteiligt ist dabei nahezu immer der Ministerrat, in dem wiederum Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten sitzen, die dann ja auch dafĂŒr zustĂ€ndig sind, das Beschlossene in der Heimat zu implementieren. Und plötzlich steht man dann vor einem Problem: wer bedingt eigentlich wen? Sind die Nationalstaaten die abhĂ€ngige Variable, wie es das Modell suggeriert oder ist es doch umgekehrt? Wie kann man die Auswirkungen von EU-Entscheidungen untersuchen, bei denen die Nationalstaaten doch selbst beteiligt waren? Featherstone hat dieses Problem gut charakterisiert, indem er von einer „chicken and egg question: which comes first? Who is affecting whome?“ spricht.[7] Hier kommt nun genau das Dilemma zum Ausdruck, auf das zu Beginn verwiesen wurde: Kann man die Praxis der EuropĂ€ischen Union wirklich aus der reinen top-down-Perspektive erklĂ€ren? WĂ€re ein bottom-up-Ansatz nicht besser geeignet? In jedem Fall scheint mir die passive Rolle, die das Misfit-Modell den Nationalstaaten zuschreibt, nicht der RealitĂ€t zu entsprechen. Vielmehr wird europĂ€ische Politik auch aktiv von den Mitgliedstaaten gestaltet. Die Akteure mĂŒssten stĂ€rker in den Vordergrund gerĂŒckt werden, nachdem deren Rolle weitaus aktiver ist und die Nationalstaaten nicht einfach nur auf Vorgaben von der EU-Ebene reagieren. Außerdem ist durchaus fraglich, ob die Vertreter der nationalen Regierungen es ĂŒberhaupt soweit kommen lassen wĂŒrden, einen Misfit entstehen zu lassen. Im Endeffekt sind die nationalen Regierungen den WĂ€hlern im Heimatland verpflichtet und werden es wohl eher nicht riskieren, dass die europĂ€ische Politik den eigenen PrĂ€ferenzen komplett entgegenlĂ€uft. Dies hĂ€ngt auch eng damit zusammen, dass es eben kein gesamteuropĂ€isches WĂ€hlervolk gibt, an dessen LegitimitĂ€t alle Nationalstaaten zu gleichen Teilen gebunden sind. Hier wird nun deutlich, dass die Beziehung zwischen nationalstaatlicher und EU-Ebene keine Einbahnstraße ist, sondern sich wechselseitige BezĂŒge ergeben. GestĂŒtzt wird diese Hypothese von Putnams Theorie eines Two-Level-Games.[8] Diese beschreibt nationale Regierungen als gate-keeper und weist ihnen die entscheidende Rolle bei internationalen Verhandlungen, hier auf europĂ€ischer Ebene, zu. Zentraler Punkt ist, dass die europĂ€ischen Vereinbarungen auf nationaler Ebene implementiert werden können mĂŒssen. Um eine Einigung auf europĂ€ischer Ebene erzielen zu können, mĂŒssen sich die innerstaatlichen winsets ĂŒberschneiden, die die Menge aller ratifizierbaren Entscheidungen auf nationaler Ebene umfassen. Hier ergibt sich dann eine Vielzahl möglicher Szenarien, die fĂŒr die Thematik dieser Arbeit zu weit fĂŒhren wĂŒrde. Durch die Zuschreibung der entscheidenden Rolle an die nationalen Regierungen kann zumindest versucht werden, das Dilemma zwischen der bottom-up- und der top-down-Perspektive etwas aufzulösen. LĂ€uft man doch hier Gefahr völlig den Überblick zu verlieren, da sich bei gleichzeitiger Anwendung kaum noch kausale ZusammenhĂ€nge herleiten lassen und man sich im wahrsten Sinne des Wortes eher im Kreis dreht. Nationale Regierungen versuchen also die europĂ€ische Politik nach ihren PrĂ€ferenzen mitzugestalten, um die Transaktionskosten fĂŒr die Implementierung möglichst gering zu halten. Mithilfe der vorherigen Argumentation konnten fundamentale SchwĂ€chen des Misfit-Modells aufgezeigt werden, die die Anwendbarkeit auf die Praxis der europĂ€ischen Politik stark einschrĂ€nken. In der eingangs gestellten Frage wurde aber auch nach der RealitĂ€t gefragt. In Bezug auf die EuropĂ€ische Union scheint es derzeit bei der Meinungsbildung entscheidend zu sein, aus welchem Mitgliedsstaat man stammt. Nach einer Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew ist die Zustimmung zur EU innerhalb eines Jahres von 60 auf 45 Prozent gesunken.[9] Dabei hat die Schuldenkrise deutlich Einfluss genommen, denn unter den acht befragten LĂ€ndern (Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Polen und Tschechien) kommt der negative Trend besonders bei den krisengebeutelten LĂ€ndern Spanien, Griechenland und vor allem Frankreich zum Ausdruck. In Deutschland dagegen sind die Befragten deutlich optimistischer und unterstĂŒtzen sogar zu 60% eine Übertragung von mehr Kompetenzen an die EuropĂ€ische Union. Hier scheint mir ein Zusammenhang zu der erlĂ€uterten wichtigen Rolle der nationalen Regierungen erkennbar zu sein. Man hat das GefĂŒhl Angela Merkel scheint es sehr gut zu gelingen der europĂ€ischen Politik ihren Stempel aufzudrĂŒcken und die Transaktionskosten fĂŒr Deutschland möglichst gering zu halten. Dabei profitiert sie natĂŒrlich auch eindeutig von der, im Vergleich zu den europĂ€ischen Nachbarn exzellenten deutschen Wirtschaftslage. Andere europĂ€ische LĂ€nder, besonders Spanien und Griechenland haben mit den strikten Sparvorgaben zu kĂ€mpfen, was den nationalen Regierungen im Heimatland hĂ€ufig ĂŒbelgenommen wird und so die EuropĂ€ische Union zum willkommenen SĂŒndenbock wird. Ein Spanier oder Grieche, scheint mir, wĂŒrde das Misfit-Modell also vielleicht nĂ€her an der erfahrenden RealitĂ€t und die Regierung im Heimatland wirklich in einer passiveren Rolle sehen.

Wie anhand der dargestellten Argumentation deutlich geworden, ist es mehr als fraglich, ob das Misfit-Modell die europĂ€ische Praxis widerspiegelt. Zum einen ergeben sich Probleme bei der Anwendbarkeit, nachdem nur monokausale Prozesse, sowie horizontale Impulse erklĂ€rt werden können. Auch wurde nachgewiesen, dass Misfit keine objektive Kategorie darstellt, sondern Interpretationssache ist. Der Goodness of fit Ansatz verkennt die aktive Rolle der nationalen Regierungen, die am europĂ€ischen Gesetzgebungsprozess naturgemĂ€ĂŸ durch den Ministerrat vertreten sind. Jedoch wurde im letzten Teil auch darauf hingewiesen, dass die Bewertung des Ansatzes je nach Herkunftsland auch unterschiedlich ausfallen kann, nachdem, wie Umfragen zeigen, die EuropĂ€ische Union in Zeiten der Schuldenkrise gespalten ist. Der Ansatz ist nicht gĂ€nzlich abzulehnen, kann jedoch die Praxis der EuropĂ€ischen Union nicht umfassend abbilden. Ich persönlich bin der Meinung, dass der große Einfluss der nationalen Regierungen nicht vernachlĂ€ssigt werden darf, trĂ€gt er doch auch in großem Maß zur BestĂ€ndigkeit der Institution EuropĂ€ische Union bei. WĂŒrde es nie gelingen europĂ€ische Richtlinien in den Mitgliedsstaaten zu implementieren, aufgrund eines zu großen Misfits, wĂ€re das Fortbestehen und die GlaubwĂŒrdigkeit der EuropĂ€ischen Union in Gefahr. In Bezug auf die Praxis der EuropĂ€ischen Union wĂ€re es weiterfĂŒhrend auch interessant, die Rolle des Parlamentes zu untersuchen, welches durch den Vertrag von Lissabon aufgewertet wurde und auch immer mehr an Profil zu gewinnen scheint.  

Meinungsartikel von Agnes Kultzen, Passau
6. Mai 2014

Der Artikel entstand im Rahmen des Proseminars Interessenvertretung in der EuropÀischen
Union an der UniversitÀt Passau (Wintersemester 2013/14).

 

Literaturverzeichnis:

  • Auel, Karin (2005): EuropĂ€isierung nationaler Politik, in: Bieling, Hans-JĂŒrgen/ Lerch, Marika (Hrsg.): Theorien der europĂ€ischen Integration. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften. S.293-315.
  • Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die EuropĂ€isierung des politischen Systems. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften.
  • Börzel, Tanja A./Risse, Thomas (2003): Conceptualizing the Domestic Impact of Europe, in: Featherstone, Kevin/Radaelli, Claudio M. (Hrsg.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press. S.57-80.
  • Börzel, Tanja A. (2003a): How the European Union Interacts with its Member States, in: IHS Political Science Series 2003, No. 93. Online verfĂŒgbar unter: http://aei.pitt.edu/1049/1/pw_93.pdf (zuletzt geprĂŒft am 06.01.2014).
  • Börzel, Tanja A. (2006): EuropĂ€isierung in der deutschen Politik?, in: Schmidt, Manfred G./ Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland: Innen- und Außenpolitik seit 1949. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften. S.491-512.
  • Putnam, Robert D. (1988): Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Level Games, in: International Organization, Vol. 42, No. 3. S.427-460.
  • Radaelli, Claudio M. (2003): The Europeanization of Public Policy, in: Featherstone, Kevin/ Radaelli, Claudio M. (Hrsg.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press. S. 27-56.
  • Radaelli, Claudio M. (2004): Europeanisation: Solution or problem?, in: European Integration online Papers, Vol.8 (2004) N°16. Online verfĂŒgbar unter: http://eiop.or.at/eiop/pdf/2004-016.pdf (zuletzt geprĂŒft am 06.01.2014).
  • Featherstone, Kevin (2003): Introduction: In the name of ‚Europe‘,in: Featherstone, Kevin/ Radaelli, Claudio M. (Hrsg.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press. S.3-22.
  • Umfrage des Pew Research Centers, online verfĂŒgbar unter: http://www.pewglobal.org/2013/05/13/the-new-sick-man-of-europe-the-european-union/ (zuletzt geprĂŒft am 06.01.2014).

[1]Auel, Karin (2005): EuropĂ€isierung nationaler Politik, in: Bieling, Hans-JĂŒrgen/ Lerch, Marika (Hrsg.): Theorien der europĂ€ischen Integration. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften. S.294.

[2]Radaelli, Claudio M. (2003): The Europeanization of Public Policy, in: Featherstone, Kevin/ Radaelli, Claudio M. (Hrsg.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press. S.30.

[3] ebda. S.40f.

[4] Börzel, Tanja A./Risse, Thomas (2003): Conceptualizing the Domestic Impact of Europe, in: Featherstone, Kevin/Radaelli, Claudio M. (Hrsg.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press. S.63f.

[5] Radaelli, Claudio M. (2004): Europeanisation: Solution or problem?, in: European Integration online Papers, Vol. 8 (2004) N° 16. Online verfĂŒgbar unter: http://eiop.or.at/eiop/pdf/2004-016.pdf (zuletzt geprĂŒft am 06.01.2014). S.7.

[6] Beichelt, Timm (2009): Deutschland und Europa. Die EuropĂ€isierung des politischen Systems. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften. S.26f.

[7] Featherstone, Kevin (2003): Introduction: In the name of Europe, in: Featherstone, Kevin/ Radaelli, Claudio M. (Hrsg.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press. S.18.

[8] Putnam, Robert D. (1988): Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Level Games, in: International Organization, Vol. 42, No. 3. S.433f.

[9]Umfrage des Pew Research Centers, online verfĂŒgbar unter: http://www.pewglobal.org/2013/05/13/the-new-sick-man-of-europe-the-european-union/(zuletzt geprĂŒft am 06.01.2014).

Passauer Essays zu Lobbyismus & EuropÀisierung

Lobbyismus & EuropĂ€isierung. Das Begriffspaar kommt eher selten vor. Mein Proseminar Interessenvertretung in der EuropĂ€ischen Union an der UniversitĂ€t Passau widmet sich beiden Themenbereichen. Nach drei Semestern wird es Zeit, interessante bzw. lesenswerte Essays mit Zustimmung der Autorinnen und Autoren und des Jean-Monnet-Lehrstuhls fĂŒr EuropĂ€ische Politik zu veröffentlichen. Den Beginn macht ein Essay zum sperrigen theorielastigen Thema EuropĂ€isierung durch „Goodness of fit“ vulgo „Misfit“ von Agnes Kultzen. Wie sehr passen Theorien zur RealitĂ€t? Kultzen ist da skeptisch. Weitere Artikel folgen in loser Reihe, u.a. zur Dalli-Lobby-Affaire.

Ach, herrje ist BrĂŒssel kompliziert und dieser Lobbyismus…

Ach, herrje ist BrĂŒssel kompliziert und dieser Lobbyismus… Es ist ein öffentlich-rechtliches Kontrastprogramm. 2013 legte „Brussels Business“ bei Arte vor, nun kam das „Wunder von BrĂŒssel“ im WDR (hier aktuell in ARD-Mediathek). Vorab: Wir können froh sein, dass wir einen vielfĂ€ltigen öffentlichen Rundfunk haben. Wer sich beide Dokumentationen hintereinander anschaut, kann kaum glauben, dass es um das gleiche Thema geht: um  Lobbyismus in BrĂŒssel. Macht Brussels Business so richtig dĂŒster-cineastische Stimmung, so schaltet ARD-Korrespondent Christian Feld auf einen erfrischenden ErklĂ€rmodus und macht klar, worum es beim Lobbyismus wirklich geht: um Einflussnahme auf Gesetzgebung. Und da die Mitgliedstaaten und ihre Parlamente eine Vielzahl der Gesetze den EU-Institutionen ĂŒberlassen haben, sucht sich der Lobbyismus, wie das Wasser am Berg, seinen europĂ€ischen Weg. Manchmal staut es, manchmal sickert es durch, aber meist wird es von Parlament, Kommission und Regierungen kanalisiert.

„Brussels Business“ hatte es sich mit seinem Flutlicht auf einen vorgeblichen Lobbyistenmoloch einfach gemacht. Das „Übel Lobbyismus“ verband „Brussels Business“ mit der europĂ€ischen Hauptstadt. Die Macher marginalisierten das Europaparlament förmlich, obwohl es doch eine wirksame Medizin gegen Einzelinteressen war und ist.

Das „Wunder von BrĂŒssel“ hingegen lĂ€sst im Europawahljahr das Parlament im erstaunlich guten Licht erscheinen. Es wird deutlich, wie das Berichterstatterwesen im „Ausschussparlament“  EP funktioniert. Die „David-Figur“ (FAZ), der Europa-Abgeordnete und EU-„Datenschutzgrundverordnungsberichterstatter“  Jan Philipp Albrecht wird zum ehrlichen Makler unterschiedlicher Interessen. Genau so kann man Albrecht und viele seiner EP-Kollegen auch bei „Berichterstatter im Dialog“ des Netzwerks EBD erleben. Das gemeinsam mit dem InformationsbĂŒro des EuropĂ€ischen Parlaments durchgefĂŒhrte Format ermöglicht Interessenvertretern den selbstverstĂ€ndlich offenen Austausch mit diesen wirkmĂ€chtigen und nicht nur berichtenden Volksvertretern.

Nun wird auch das Wunder von BrĂŒssel kritisiert:  „Mini-Strafe fĂŒr Google?“  fragt Uwe Ebbinghaus von der FAZ. Worauf er abzielt ist das ewige öffentliche Fremdeln mit Interessenvertretung, wenn Gesetze gemacht werden. Wir mĂŒssen wohl alle vergeblich darauf warten, dass Lobbyismus wertneutral erklĂ€rt wird, als notwendiger Teil einer nicht immer perfekten Demokratie.  Dass in Deutschland der Ursprung der Lobby vornehmlich in Hotels und nicht in Parlamenten vermutet wird, ist sicherlich Ă€rgerlich, aber dem aktuellen politischen Zeitgeist geschenkt, der zwischen Volk und preußischen Beamten nur schmierige Vertreter und korrupte Politiker sehen möchte.  Aber selbst das Wunder von BrĂŒssel hat nicht genug Sendezeit, um alles gerecht zu gewichten (und es hĂ€tte ja auch wie Brussels Business enden können…).  Aber immerhin: Christian Feld löst das Gesetzgebungswunder von BrĂŒssel durch Jan Philipp Albrecht positiv auf, mit  „eigentlich ist es ein Wunder der Demokratie“.

Gewichtiger ist ein anderer Aspekt, der von der FAZ aufgeworfen wurde. Auch mir fiel auf, dass das „Wunder von BrĂŒssel“ die Rolle der Mitgliedstaaten unterbelichtet. Dies ist in der Tat eine „Black Box“. Da helfen auch keine litauischen und griechischen Drehorte und auch nicht die Ausrede, dass alles so kompliziert sei. 

Wer Lobbyismus in der Europapolitik verstehen und erklĂ€ren möchte, sollte nationale Politiken nicht unterbelichten. Es wĂ€re Ă€ußerst spannend, wenn erstmals ein Berliner und BrĂŒsseler Korrespondent gemeinsam Interessenvertretung und Gesetzgebung im europĂ€ischen Mehrebenensystem erklĂ€ren könnten.

Anfangen wĂŒrde ich da mit einer Analyse der deutschen Enthaltung zur Verhinderung (?) der Genmais-Verordnung. Am Rande einer Tagung in Tutzing habe ich bei Christian Feld mit einer privaten Umfrage begonnen: „Wer kann mir sagen, wann wer in Berlin entschieden hat, dass sich Deutschland schlussendlich enthielt.“ Die einfache Antwort in der deutschen Presse: die Koalition war sich nicht einig (so Ă€hnlich Tagesschau). Ergo habe sich „Deutschland“ „in BrĂŒssel“ enthalten mĂŒssen.

Aber genaueres zum innerdeutschen Entscheidungsprozess, zur europapolitischen Koordinierung, mit enormen Auswirkungen auf EU-Gesetzgebung, können weder BrĂŒsseler und erst recht nicht Berliner Korrespondenten liefern.

Ach, herrje ist Berlin kompliziert und welcher Lobbyismus…?

No Angst: Europakonsensschland erklÀren!

NatĂŒrlich halten die Kurse nach der Bundestagswahl. Die Eurozone lebt vom stabilen Deutschland. CNBC fragte mich gleich nach der Wahl, welche Auswirkungen die Wahl denn auf die Eurozone habe. Keine, das heißt eine stabilisierende. Denn wenn der Wahlkampf schon langweilig war und sich die meisten Parteien in der Frage des Krisenmanagements kaum unterschieden, dann kann auch das Wahlergebnis fĂŒr die Eurozone nicht besonders spannend sein. Gottseidank!

Die CNBC-Frage nach der AfD kann glĂŒcklicherweise auch nicht sonderlich provozieren. Kleinstparteien mögen zwar in Deutschland als Mehrheitsbeschaffer eine wichtige Rolle spielen, die Bedeutung von Englands UKIP kann AfD aber kaum erhalten. Im Vereinigten Königreich kann ein Wahlkreis mit 20% der Stimmen zu 100% gewonnen werden. In den meisten der 650 Wahlkreise können selbst geringe Verluste einer einfachen Mehrheit einen 100% Machtverlust bedeuten. Das Mehrheitswahlrecht hat so lĂ€ngst seinen stabilisierenden Charakter eingebĂŒĂŸt, wie Jon Worth richtigerweise in einem Beitrag angemerkt hat.  Ein englisches ÄtschibĂ€tsch nach einer deutschen UKIP im AfD-Schafspelz (The Telegraph: „Merkel’s UKIP„) verhallt ungehört im deutschen Konsenstag. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Anders als der Bundesrepublik droht dem Königreich ein Flickenteppich und eine immer weniger reprĂ€sentative Demokratie.

Das stabile Deutschland ist mit Föderalismus, Sozialpartnern, starken Kommunen fĂŒr Medien schrecklich unĂŒbersichtlich und nicht nur fĂŒr den auslĂ€ndischen Betrachter im Ergebnis langweilig. Egal welche Koalition nun gebildet wird, die Opposition ist entweder ganz klein oder ĂŒber den Bundesrat eng an der Regierung zu beteiligen. Europapolitisch gibt es dann erst recht keinen ZĂŒndstoff. Leider fĂŒhrt dies ungewollt zu negativen KollateralschĂ€den fĂŒr den Dialog mit den BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern und den Interessengruppen. Europas Relevanz verliert sich im deutschen Niemandsland.

Zugegeben: fĂŒr das konsensorientierte Deutschland steht auch meine Arbeitgeberin, die EuropĂ€ische Bewegung Deutschland. 1949 – ausgerechnet von einem konservativen Briten mitgegrĂŒndet – gehört sie zum bundesrepublikanischen Erstinventar. Fast alle Parteien sind drin, die Sozialpartner eh und ĂŒber 200 Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft auch. Ohne das so erfolgreiche Konsensschland zu verlassen, braucht die kĂŒnftige Bundesregierung Mut zu mehr Kommunikation und Wettstreit der Ideen. Aber gleichzeitig braucht man auch eine neue Konsenskultur in Europa: „Wenn Europa nicht in der weltpolitischen Bedeutungslosigkeit versinken will, brauchen wir eine neu verhandelte, eine klug gestaltete Union, die alle mittragen.“ (Rainer Wend)

 

 

Greece: of Pride, Scopeguards and Technocratic Help

In December 2012 together with Daniel Sahl (board member of European Movement Germany) I travelled to Athens to explore how Greek civil society has coped with the global economic and financial crisis. Following several days of consultations with stakeholders from business and politics they published a report on their findings, with the deliberately provocative title Greece without civil society: no good news for the future of the country  The article received a wide range of reactions which provoked them to take another, and more thorough, look at the subject.

Griechenland: Stolz, SĂŒndenböcke und technokratische Blindheit

Es wurde als Provokation angenommen. Im letzten Jahr habe ich gemeinsam mit Daniel Sahl behauptet, dass es in Griechenland keine Zivilgesellschaft gebe. Nun konnten wir fĂŒr das Bundesnetzwerk BĂŒrgerschaftliches Engagement den kritischen Blick auf die VerhĂ€ltnisse und vor allem die mangelhafte europĂ€ische Antwort ausfĂŒhrlicher in einem Artikel zur „Griechischen Transformationstragödie“ begrĂŒnden. Hauptthesen: die organisierte Zivilgesellschaft konnte sich in der Zeit nach der Diktatur nicht ausreichend entfalten und die Griechenlandhilfe ist zu technokratisch. Die Replik von Olga Drossou vom Thessaloniki-BĂŒro der Heinrich-Böll-Stiftung steht dabei nur vordergrĂŒndig im Widerspruch. VielfĂ€ltige BĂŒrgerinitiativen sind gut und wichtig, organisierte Interessenvertretung außerhalb des Staates ersetzen sie aber nicht. Eine Ă€hnliche Frage habe ich der tageszeitung neulich zu Sozialen Bewegungen mit „unorganisierten BĂŒrgern“ beantwortet. Romantik hilft nicht weiter. Die Griechinnen und Griechen brauchen strukturelle Hilfe.

About non-organised citizens

Germany’s cooperative associations’ landscape going out of fashion is a phenomenon of the 90s. The assembly culture of associations has always been bad-mouthed, but no decade of the post-war period has so consistently replaced democratic decision-making structures with foundations and charitable limited liability companies (gGmbHs) through “the true will of citizens“, project work, and efficiency.

The Internet did its part for direct communication and democracy to be regarded as superior to committees (or parliament) slowly finding a compromise. After all, in Italy the comedian Beppe Grillo managed to enter a representative parliament by connecting a movement on the street and a network. In the wake of the sovereign debt crisis, for which primarily young people in Southern Europe, the United Kingdom and Ireland will have to pay, hopes are being built on social movements, which are hard to fulfil.

Martin Kaul, editor at the tageszeitung (taz), simply asked in his article „Avanti is not Compact“ (in German), why these social movements do not dart across borders. My answer in the taz: finally reconcile organisations, associations (in brief: structured sustainable democracy) with scattered pressure from the street! For it is „a romantic notion that a social movement on the street can get along without organised structures.“ Democratic civil society, beside national parliaments, must be at the heart of European democracy. It deserves the respect of the media and politics again. Citizens must not be left with elite initiatives alone, even if they are well intentioned. Let us dare to have more democracy in civil society!

Von unorganisierten BĂŒrgern

Es ist ein PhĂ€nomen der 90er Jahre, dass die korporative deutsche VerbĂ€ndelandschaft aus der Mode geraten ist. Vereinsmeierei wurde schon immer beschimpft, aber kein Jahrzehnt der Nachkriegszeit hat so konsequent demokratische Entscheidungsstrukturen mit dem „wahren BĂŒrgerwillen“, Projektarbeit, Effizienz, Stiftungen und gGmbHs ersetzt. Das Internet hat das seine dazu beigetragen, die direkte Kommunikation und Demokratie als höherwertiger anzusehen, als langsame Kompromissfindung in Gremien (vulgo Parlament). Immerhin: Grillo schaffte es in Italien durch die Verbindung von Straße und Netz in ein reprĂ€sentatives Parlament einzuziehen. Im Zuge der Staatsschuldenkrise, die vor allem junge Menschen im SĂŒden Europas und im Vereinigten Königreich und in Irland auszubaden haben, werden Hoffnungen auf soziale Bewegungen gesetzt, die nur schwer erfĂŒllbar sind. Martin Kaul von der  tageszeitung (taz) fragt heute in „Avanti ist nicht Compact“ schlicht, warum diese sozialen Bewegungen nicht grenzĂŒberschreitend fliegen. Meine Antwort in der taz: versöhnt endlich Vereine, VerbĂ€nde, (kurz: strukturierte nachhaltige Demokratie) mit sporadischem Druck der Straße. Denn es ist „eine romantische Vorstellung, dass eine soziale Bewegung auf der Straße ohne organisierte Strukturen auskommt.“ Die demokratische Zivilgesellschaft muss neben den Parlamenten ein Kern der europĂ€ischen Demokratie werden. Sie braucht wieder Respekt der Medien und der Politik. Die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger dĂŒrfen nicht mit Eliteinitiativen, seien sie noch so gut gemeint, allein gelassen werden. Mehr Demokratie wagen in der Zivilgesellschaft!

Brussels Business bei Arte

Diese Woche geht Brussels Business auf Sendung. Schon vor einigen Monaten konnte ich den Film sehen. Ich bin froh dass endlich jede/r diese Meisterdokumentation dramatischer Bilder oder besser den „Doku-Thriller“ (IMDB) sehen kann. Aber bleiben Sie kritisch: das Drama mag irrefĂŒhren.

  • 12 Februar 2013 20:16 Uhr, Arte, Wiederholung 24. Februar 2013 01:35 Uhr
  • ab  5. Februar 2013 30 Tage online bei Arte: The Brussels Business

Meine Kritik zu Brussels Business

Wikipedia Artikel

Internet Movie Data Base

Offizielle Facebook Seite

Offizielle Webpage

EuropĂ€isierte Geschichte oder „Es war einmal… die Nation“

Hier fing Europa an? 785 unterwirft der „Franzose“ Karl der Große die „Deutschen“ in Paderborn. Das macht uns Historienmaler Ari Scheffer ĂŒber 900 Jahre spĂ€ter glauben. GemĂ€lde in Versailles.
Quelle: Wikimedia commons

Achtung! Jetzt wird es nostalgisch. Wer eine SchwĂ€che fĂŒr das Zeitalter von Barock & AufklĂ€rung hat und gleichzeitig europĂ€isch arbeitet, bekam zum Jahresende eine richtig nette LektĂŒre geschenkt. Der Economist hat die besinnlichen Tage genutzt und das Heilige Römische Reich mit der EuropĂ€ischen Union verglichen. Seine ĂŒberraschenden Einsichten „European disunion done right“ (22. Dezember 2012) sollte man ausfĂŒhrlich lesen. „The first Eurocrats“ waren die Gesandten im „ImmerwĂ€hrenden Reichtstag“ in Regensburg? Ein vormodernes Gebilde gilt fĂŒr die fĂŒhrende britische Wochenzeitschrift als Vorbild fĂŒr eine europĂ€ische „Desintegration“? Wer schreibt im Spiegel den Artikel „Britische Wellenherrschaft, diesmal gut fĂŒr alle“? Aber die gewagte Gleichsetzung ist keine Erfindung des Economist. Ralph Bollmann schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Pufendorfs  „irregulĂ€ren und einem Monstrum Ă€hnlichen Körper“ und meint damit nicht nur das Reich, sondern auch die EU. Anders als die englischen Kollegen verschweigt Bollmann die neutrale Bedeutung des lateinischen „Monstrum“.

Es war schon immer reizvoll wie gefĂ€hrlich historische Parallelen zu ziehen. Legitim ist es allemal. Man muss nur die Grenzen kennen. Journalisten tauchen in die Geschichte ein. Historiker zieht es in die europĂ€ische Gegenwart. Dabei macht sich die Geschichtswissenschaft keine Illusionen. Sie sieht sich bei allem objektivierendem BemĂŒhen nicht frei vom Zeitgeist.

Einer der fĂŒhrenden deutschen FrĂŒhneuzeitler Heinz Durchhardt schrieb 2007 in seinem Standardwerk zum 18. Jahrhundert: „Fast im Gleichschritt mit dem europĂ€ischen Einigungsprozess hat die Geschichtswissenschaft allgemein und die FrĂŒhneuzeitforschung im Besonderen den Reiz europĂ€ischer ForschungsansĂ€tze erkannt.“ Und er wagte einen Paradigmenwechsel. Er ersetzte den Begriff „Absolutismus“ durch „Barock“. BegrĂŒndung: das Zeitalter der Nationen hat erst rĂŒckwirkend Königs zu absoluten Herrschern verklĂ€rt, die sie in der partizipativen vielschichtigen Gesellschaft des Barocks nie waren. So sehen es nicht nur der Economist und die FAZ unser heutiges Europa als Spiegel des 17./18. Jahrhunderts. Nur so lĂ€sst sich Durchhardts neues Kapitel „EuropĂ€isierung als Kategorie der FrĂŒhneuzeitforschung“ erklĂ€ren. Die Kommunikationsrevolution, marginalisierte Nationen, der Aufstieg neuer Bildungsschichten, europĂ€ischer Bildungsaustausch, kurz Integration und InterkulturalitĂ€t werden dem 21. und 18. Jahrhundert ohne Scheu gleichermaßen zugesprochen. AnsĂ€tze hierzu finden sich in der „EuropĂ€istik“ von Wolfgang Schmale.

Aber man muss auch gar nicht in die große weite Welt des Economist fahren und die Historiker bemĂŒhen. Ganz stolz musste ich dieser Tage erfahren, dass meine Heimatstadt Paderborn von Arte fĂŒr  etwas ganz besonderes ausgezeichnet wurde: einen „ewigen Liebesbund“ mit Le Mans, „der als eines der Ă€ltesten internationalen Abkommen gilt und gleichzeitig die erste offizielle Verschwisterung zweier europĂ€ischer StĂ€dte begrĂŒndete.“ Das hat mich motiviert, in Wikipedia die „StĂ€dtepartnerschaft Le Mans-Paderborn“ auf Deutsch zusammenzufassen. Soviel europĂ€ischer Lokalstolz muss sein.

Wer in den 80er Jahren in der zentralsĂŒdostwestfĂ€lischen Provinz zum ersten Mal mit Europa zusammentraf, tat dies aus verschiedenen GrĂŒnden. Langweiliges – aber aus heutiger Sicht unglaublich europĂ€isches – Fernsehen und eine beeindruckend starke StĂ€dtepartnerschaft mit Le Mans – gehegt und gepflegt von der viel gescholtenen aber transnationalen katholischen Kirche und in vielen schulischen- und zivilgesellschaftlichen Kreisen, vom SchĂŒtzen- zum Kulturverein. Ich dachte immer, die europĂ€ischen Bekenntnisse in meiner Umwelt wĂ€ren nur KnabenmorgenblĂŒtentrĂ€ume gewesen. Aber es war wohl in der Tat etwas ganz besonderes. Wenn ein – zugegeben – Spartensender heute die guten alten StĂ€dtepartnerschaften ehrt, wird deutlich, was alles in den 90er Jahren verloren gegangen ist. Ein Vertreter des StĂ€dte- und Gemeindebundes brachte es einmal auf diesen Punkt: „FrĂŒher gab es in den StĂ€dten das Europa der Bewegungen, heute der Richtlinien.“ Organisationen wie der „Rat der Gemeinden und Regionen Europas“ (RGRE) erhielten in den letzten 20 Jahren immer weniger Beachtung. Knallharte Juristen des Wettbewerbsrechts ersetzten im Kampf gegen die sog. BrĂŒsseler Regelungswut den interkulturellen StĂ€dtepartnerschaftsvermittler. Aber es gibt erste AnsĂ€tze einer erfreulichen Renaissance der „Gemeinden Europas“. Im Rahmen der Feierlichkeiten zu 50 Jahre ÉlysĂ©e-Vertrag bewirbt der RGRE gemeinsam mit ARTE die alte StĂ€dtepartnerschaftsidee neu – leider noch nicht auf Deutsch.

Es gibt im Internetzeitalter Hoffnung fĂŒr ein neues „Spiel ohne Grenzen“: Vielleicht sollten wir in das geliebte Barockzeitalter und die AufklĂ€rung eintauchen, um transnationale Ideen fĂŒr die Zukunft Europas zu erhalten. Diesmal fĂŒhren wir die Demokratie aber unblutig ein, ohne Revolution und ĂŒber der Nation stehend. Schafft dies Europa nicht, dann werden die nationalstaatlichen Fehler am Ende von Barock und AufklĂ€rung wiederholt.